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Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs

Titel: Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs Kostenlos Bücher Online Lesen
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gerieten Jed und ich in Streit. Er sagte, er könne Lulu sehr gut verstehen, dass sie das Handtuch geworfen habe,und es sei wahrscheinlich auch gut so. Sie sei eben erst über das Vorspielen in der Juilliard School hinweg, sei erschöpft von der Zeitverschiebung, und dann sei sie von einer völlig fremden Person auf die Finger geschlagen worden. «Findest du es nicht befremdlich, dass Frau Kazinczy versucht, einen Tag vor dem Konzert Lulus Fingersatz zu ändern? Ich dachte, das ist streng verboten», sagte er. «Wie wär’s, wenn du mal mehr Verständnis für Lulu aufbringst, Amy? Ich weiß, worauf du hinauswillst, aber wenn du nicht aufpasst, kann der Schuss nach hinten losgehen.»
    Ein Teil von mir wusste, dass Jed recht hatte. Aber darüber konnte ich jetzt nicht nachdenken. Ich musste mich auf das Konzert konzentrieren. Am nächsten Tag, als ich zwischen ihren jeweiligen Übungsräumen in der neuen Akademie hin- und herpendelte, war ich mit beiden Mädchen streng.
    Leider war Lulus Empörung über Frau Kazinczy über Nacht nur noch gewachsen. Immer wieder ging sie im Geist das Erlebte durch und wurde mit jedem Mal erboster und unkonzentrierter. Wenn ich sie aufforderte, eine Passage zu wiederholen, platzte sie heraus: «Sie hat keinen blassen Schimmer! Der Fingersatz, den sie vorschlägt, ist absolut verrückt! Hast du gemerkt, wie sie sich dauernd widersprochen hat?» Oder: «Ich glaube nicht, dass sie irgendwas von Bartók kapiert; ihre Interpretation ist grauenhaft – was glaubt sie, wer sie ist?»
    Als ich sagte, sie solle jetzt nicht mehr auf Frau Kazinczy herumreiten, das sei nur Zeitverschwendung, antwortete Lulu: « Nie stehst du auf meiner Seite! Und ich will heute nicht auftreten. Ich hab keine Lust mehr. Diese Frau hat alles kaputtgemacht. Soll Sophia allein spielen.» Wir stritten den ganzen Nachmittag, und ich war mit meinem Latein am Ende.
    Schließlich war es wohl Krisztina, die den Tag rettete. Als wir in der Alten Musikakademie eintrafen, eilte sie uns strahlend und überschäumend entgegen. Sie umarmte die Mädchen begeistert, drückte jeder ein kleines Geschenk in die Hand und rief: «Wir freuen uns so, dass ihr da seid. Ihr seid beide so unglaublich ta len tiert» – mit Betonung auf der zweiten Silbe. Leichthin und mit einem Kopfschütteln bemerkte sie, Frau Kazinczy hätte nicht versuchen sollen, Lulus Fingersatz zu ändern, sie habe anscheinend vergessen, wie wenig Zeit bis zum Konzert noch war. «Du bist so ta len tiert», wiederholte sie, an Lulu gewandt. «Das wird ein wunderbares Konzert!» Dann entführte sie die beiden – fort von mir – in ein Hinterzimmer, wo sie Teile des Programms mit ihnen durchging.
    Bis zur letzten Sekunde wusste ich nicht, wie es ausgehen würde – und ob eine oder beide Töchter am Abend auftreten würden. Es war wie ein Wunder, dass Lulu im letzten Moment das Ruder herumriss. Das Konzert wurde ein spektakulärer Erfolg. Die Ungarn, warmherzige und großmütige Menschen, bescherten den Mädchen stehende Ovationen und ließen sie sich dreimal verbeugen, und der Museumsdirektor lud sie ein, jederzeit wiederzukommen. Danach führten wir die Pogánys, meine Eltern und Sy und Harriet, die gerade rechtzeitig fürs Konzert eingetroffen waren, zu einem Festessen aus.
    Aber nach dieser Reise hatte sich etwas verändert. Das Erlebnis mit Frau Kazinczy hatte Lulu empört und wütend gemacht, es verletzte ihr Gerechtigkeitsempfinden. Und es brachte sie gegen das chinesische Modell auf – wenn damit verbunden war, dass man Leute wie Frau Kazinczy über sich ergehen lassen musste, dann wollte sie nichts mehr davon wissen. Außerdem hatte sie ausprobiert, was passierte, wennsie der Lehrerin und der Mutter schlicht den Gehorsam verweigerte, und siehe da, der Himmel war nicht eingestürzt. Im Gegenteil – sie hatte sich durchgesetzt. Sogar meine Eltern standen ungeachtet aller Grundsätze, die sie mir eingeimpft hatten, auf Lulus Seite.
    Ich hingegen hatte das Gefühl, dass sich etwas gelockert hatte, als hätte sich ein Anker aus dem Boden losgerissen. Ich hatte ein Stück weit die Kontrolle über Lulu verloren. Keine chinesische Tochter würde sich je verhalten wie Lulu. Keine chinesische Mutter hätte es je zugelassen.

Teil 3
     
    Der Tiger ist zu großer Liebe fähig, neigt darin aber zur Übertreibung. Er ist außerdem revierbewusst und besitzergreifend. Der Preis, den der Tiger für seine dominante Position zahlt, ist häufig

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