Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs
Erwachsenwerden und vor allem nichts über das unappetitliche Acht-Buchstaben-Wort, das mit P-u anfängt und mit ä-t aufhört. Niemals gab es bei uns so etwas wie Aufklärung – schon die Vorstellung, wie ein solches Gespräch hätte ablaufen können, jagt mir noch im Nachhinein kalte Schauer über den Rücken.
«Sophia», sagte ich, «du hast die gleiche Position, die ich in meiner Familie hatte: Du bist die Älteste, diejenige, auf die sich alle verlassen und um die man sich keine Sorgen machen muss. Diese Rolle zu haben ist eine sehr große Ehre, und du profitierst ganz enorm davon, kriegst eine Flut von Preisen, Lob, Anerkennung. Klar, im Disneyfilm rastet die ‹brave Tochter› irgendwann aus und kapiert, dass es im Leben nicht nur um Lob und Preise geht, reißt sich die Kleider vom Leib und stürzt sich ins Meer oder irgendwas in der Art. Aber das ist Disneys Trost für die Leute, die nie einen Preis kriegen. Anerkennung und Auszeichnung öffnen dir jede Menge Chancen, und das ist Freiheit – nicht, sich ins Meer zu stürzen.»
Ich war tief bewegt von meiner Rede. Dennoch empfandich einen stechenden Schmerz. Ein Bild von Sophia kam mir in den Sinn, wie sie, die Arme voller Bücher, von der Schule nach Hause rennt, und ich ertrug es fast nicht. «Gib mir den Besen», sagte ich. «Du brauchst Zeit, um Klavier zu üben. Geh, ich räum schon auf.»
29 Verzweiflung
Meine Schwester Michelle und ich wurden beide getestet, ob wir geeignete Knochenmarkspenderinnen für Katrin wären. Bei Geschwistern ist die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung am höchsten, nämlich um die 25 Prozent, und ich war seltsam zuversichtlich, dass der Test bei mir positiv ausfiele. Aber nein. Wir kamen beide nicht in Frage. Die Ironie war, dass Michelle und ich perfekt zusammenpassten, aber Katrin konnten wir beide nicht helfen. Das hieß, dass man jetzt über die zentrale Knochenmarkspenderdatei einen Kandidaten finden musste. Sind Geschwister als Spender erst einmal ausgeschlossen, nimmt die Wahrscheinlichkeit, einen geeigneten Spender zu finden, drastisch ab, vor allem bei Menschen asiatischer und afrikanischer Herkunft, wie wir zu unserer Bestürzung erfuhren. Das Internet ist voll von Appellen sterbender Patienten, die verzweifelt nach einem passenden Spender suchen. Und selbst wenn es irgendwo einen gab, konnte das Verfahren Monate dauern – die Katrin vielleicht nicht mehr hatte.
Katrins erster Chemo-Durchgang war noch kein Albtraum gewesen, was der zweite allerdings mit Leichtigkeit wettmachte. Es war grausam. Jetzt vergingen oft Tage, ohne dass ich von ihr hörte, weil sie auf Mails nicht antworten konnte. In Panik rief ich Or an, meist meldete sich aber nur seine Mailbox; und wenn er selbst ans Telefon ging, war er kurz angebunden: «Ich kann jetzt nicht reden, Amy. Ich versuche dich später anzurufen.»
Die häufigste Todesursache bei Chemotherapie ist eine Infektion. Alltägliche Unpässlichkeiten wie eine banale Erkältung oder ein grippaler Infekt können einen Krebspatienten,dessen weiße Blutkörperchen zerstört wurden, ohne weiteres umbringen. Katrin bekam eine Infektion nach der anderen. Die Ärzte bekämpften sie mit einer ungeheuren Menge Antibiotika, die ihrerseits unangenehme Nebenwirkungen hatten, und wenn ein Antibiotikum nicht half, versuchten sie es mit einem anderen. Wochenlang konnte sie nichts essen und trinken und wurde intravenös ernährt. Sie fror und glühte abwechselnd. Die Komplikationen und Krisen rissen nicht ab, und sie litt oft derartige Qualen, dass sie sediert werden musste.
Als der zweite Chemo-Durchgang überstanden war, saßen wir abermals auf Kohlen. Ein Hinweis auf einen Erfolg im Kampf gegen die Leukämie war, wenn Katrins Körper anfing, gesunde Leukozyten herzustellen – insbesondere die sogenannten Neutrophilen, die bakterielle Infektionen bekämpfen. Deshalb wurde Katrin jetzt jeden Morgen als Erstes Blut abgenommen, und ich saß morgens ab sechs Uhr am Computer und wartete auf ein Mail von ihr. Aber Katrin schrieb nicht mehr. Wenn ich das Warten nicht mehr ertrug und ihr zuerst mailte, bekam ich knappe Antworten wie «Werte noch nicht besser» oder «Noch immer nichts. Bin enttäuscht». Bald antwortete sie gar nicht mehr auf Mails.
Ich habe nie begriffen, was mit Leuten los ist, die hartnäckig und uneinsichtig eine Nachricht nach der anderen hinterlassen («BITTE ruf an! Wo bist du? Ich mach mir Sorgen»), auch wenn sonnenklar ist, dass das Schweigen am
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