Die Mutter
er fort: »Ich habe meine Frau vor zehn Jahren durch einen Unfall verloren. Ich sage Unfall, aber was mit Sandra passiert ist, war kein Unfall, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so aussah. Sie ist gefahren, hat die Kontrolle über den Wagen verloren und ist in einen Sattelschlepper gerast: ein Unfall. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich war nicht bei ihr, als es passierte, aber ich kann mir gut vorstellen, in welcher geistigen Verfassung sie direkt vor dem Unfall war. Ich werde nie den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergessen, als sie tränenüberströmt aus dem Haus rannte. Ich hatte sie noch nie zuvor geschlagen.
Ich hatte einen schlechten Tag bei der Arbeit gehabt Das Wetter war mies und sie war mal wieder in streitlustiger Stimmung. Genau wie ich. Wir steckten mitten in einem Anbau, der viel zu teuer wurde, und konnten uns nicht auf ein Farbkonzept oder die passenden Vorhänge einigen - ich kann mich noch nicht mal mehr daran erinnern - und irgendwann ist die Sache eskaliert. Ich bin ausgerastet und habe ihr ins Gesicht geschlagen. Ohne Vorwarnung, kein erschreckender Gedanke daran, dass ich ihr wehtun wollte - nur bumm! Ein dummer Moment der Schwäche, durch den ich Sandra verängstigt und verletzt hinaus in den Regen und ins Auto trieb. Ich erwartete, dass sie innerhalb einer Stunde zurück sein würde, höchstens zwei Stunden, und dachte, wir würden dann über alles sprechen und uns überlegen, wie es weitergehen sollte. Ich bekam nie die Chance, mich zu entschuldigen.
Nach dem Unfall fing ich an zu trinken. Eine Menge.
Etwa einen Monat, nachdem Sandra gestorben war, wurde ich gefeuert. Ich hatte alles, wie man so sagt, und ich habe es zerstört. Heute kann ich mich kaum noch daran erinnern, was ich früher unterrichtet habe. Ich weiß, welche Wurzeln und Beeren man essen kann, aber ich kann mich an keine einzige Formel erinnern. Ich hasse mein Leben aber nicht. Ich mag die Freiheit, unterwegs zu sein, auch wenn es manchmal einsam ist... Dann vermisse ich Sandra. Aber ich muss nur mir ganz allein die Schuld geben. Ich kann nicht auf die ganze Welt wütend sein: Wie man sich bettet, so liegt man, davon bin ich fest überzeugt. Wir werden in dieser Welt alle vor die Wahl gestellt, wir alle bekommen unsere Chancen. Wir sind alle selbst für die Entscheidungen verantwortlich, die wir treffen. Ich werde mich nicht in Ausreden flüchten, und ich kann nur Ben Fogerty allein die Schuld geben. Es ist eine gute Welt; einige Menschen können nur nicht darin leben.«
Angelas Gesicht lag nicht länger in ihren Armen begraben. Sie sah ihn voller Kummer, vielleicht sogar Verständnis, an. »Es ... tut mir leid«, sagte sie leise.
Ben hatte noch nie zuvor mit jemandem über Sandras Tod gesprochen. Er hatte sich allein damit auseinandergesetzt, und das hatte ihn seinen Job, seine Freunde und beinahe auch sein Leben gekostet. Aber er lebte noch und er hatte sich nicht der Dunkelheit einer Depression ergeben, obwohl er sehr genau ihr Gesicht kannte.
»Sandra war mein Ein und Alles. Sie zu verlieren, war schon schlimm genug, aber dass ich mir selbst die Schuld an ihrem Tod gab...« Er seufzte. »Es gab eine Zeit, da schien es mir das Beste, einfach Schluss zu machen. Stattdessen bin ich jetzt unterwegs. Ich musste fort aus der Stadt, von all den Erinnerungen. Am Ende habe ich meinen Frieden mit mir selbst geschlossen.«
»Selbstmord ist sowieso die Lösung der Schwachen«, sagte Angela mit bitterer Stimme. »Er erfüllt keinen Zweck. Wenn man sich an etwas schuldig fühlt, sollte man sich selbst auf die schlimmstmögliche Weise bestrafen. Mit der Schuld zu leben, ist die schlimmstmögliche Strafe, denken Sie nicht?«
»Ich schätze schon. Aber manchmal, wenn man depressiv ist...« »Depression«, unterbrach ihn Angela wütend. »Nur eine Ausrede. Wir machen alle üble Scheiße durch. Das ist nichts Einzigartiges.«
»Ich denke, für manche Menschen ist es einfach zu überwältigend.«
»Ich glaube trotzdem nicht daran«, sagte Angela. »Man sollte sich seinen Problemen stellen, nicht vor ihnen davonlaufen.«
»Manchmal ist das nicht so leicht. Und überhaupt: Dass ich auf der Straße lebe, heißt ja nicht, dass ich davonlaufe. Vielleicht war das der ursprüngliche Grund, aber mittlerweile liebe ich die Art, wie ich mein Leben führe.«
»Wie lange sind Sie schon auf der Straße?«
»Fast acht Jahre.«
»Acht Jahre? Das ist eine lange Zeit.«
»Ich komme zurecht. Wie schon gesagt, ich habe die
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