Die Mutter
Ethan.
»Pech«, sagte Paul und stieg in den Wagen.
»Verfluchte Scheiße«, murmelte Ethan, als er aus dem Auto sprang. »Ganz toll, Geburtstagskind. Jetzt werd ich mich total schmutzig machen.«
Obwohl er nicht wollte, wusste er ganz genau, dass es einem Todeswunsch gleichkam, sich gegen Paul zu stellen, und so setzte Shaun sich auf den Beifahrersitz. Er knallte die Tür zu.
Ohne ein Wort ließ Paul den Motor an, raste mit einem ohrenbetäubenden Reifenquietschen vom Rastplatz und fuhr auf den Freeway.
»Dieses Mal hast du echt den Vogel abgeschossen«, sagte Paul nach einer Weile peinlichen Schweigens. Jetzt lief keine Musik. »Fuck!«, brüllte er und schlug gegen das Lenkrad. »Shaun, du solltest besser hoffen, dass wir sie finden.«
Shauns Magen krampfte sich zusammen und seine Eier fühlten sich an, als seien sie bis in seine Kehle hochgerutscht »Es tut mir leid, Paul. Ich hab nicht nachgedacht...«
»Du denkst nie nach. Halt einfach die Augen offen. Glaubst du, du kriegst das hin?«
Shaun sah zu Paul hinüber. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, und seine Augen waren scharfe, schmale Schlitze.
Er ist stinksauer. Was, wenn wir sie nicht finden? Gott, dann wird er richtig wütend werden.
Shaun hoffte, sie würden sie nicht finden, aber er verspürte auch nicht das Bedürfnis, herauszufinden, was Paul tun würde, wenn sie mit leeren Händen zurückkamen.
Toller Geburtstag, dachte Shaun.
Sie fuhren noch eine Weile über den Freeway; das Fernlicht tauchte die Bäume in mattes Gelb. Ihre Hoffnung schwand. Die Chancen, dass sie es bereits so weit geschafft hatte, waren verschwindend gering - soweit sie wussten, hatte sie längst ein Auto angehalten; wenn das der Fall war, würden sie sie nie finden.
Plötzlich schrie Paul: »Ich glaub, ich seh sie!«
»Wo?«
»Da hinten.« Paul zeigte mit dem Daumen über die Schulter.
Shaun drehte sich um und schaute aus der Heckscheibe, aber er sah nur die blendenden Scheinwerfer eines Lkws. »Bist du sicher?«
»Ziemlich. Festhalten!« Paul trat kräftig auf die Bremse.
Wieder quietschten die Reifen ohrenbetäubend. Shaun hatte Angst, dass sie viel zu schnell fuhren, um so abrupt anzuhalten, und dass Paul die Kontrolle über den Wagen verlieren würde.
Tatsächlich blockierten die Räder, und das Auto wirbelte im Kreis herum.
Shaun spürte sein Herz wie wild in seinem Hals schlagen. Er wollte schreien, aber sein gesamter Körper war vor Angst wie gelähmt.
Raul hingegen, der den Wagen nicht mehr unter Kontrolle hatte, schrie auf, und sein angsterfüllter Schrei klang beinahe wie ein Gebet.
Die folgenden Sekunden fühlten sich an wie ein Traum -unwirklich und wie in Zeitlupe.
Shaun wurde gegen Paul geschleudert, dann gegen das Armaturenbrett und wieder gegen Paul.
Wie bei einem Stroboskop herrschte im einen Moment Dunkelheit, im nächsten leuchteten grelle Scheinwerfer auf, an und aus, immer wieder, bis der Commodore nur noch von einem einzigen mächtigen Lichtstrahl erleuchtet wurde. Der Fahrer des Tanklastwagens hupte. Shaun hörte Carolines Lachen.
In einer Explosion aus Glas, Metall und Licht wurde Shaun in eine Wolke aus glühend heißem Schmerz und Benzindämpfen geschleudert, und Carolines Lachen verklang.
Mein Leben war die meiste Zeit ziemlich langweilig. Ich habe keine großartigen Abenteuer oder schmerzlichen Melodramen erlebt - nur die üblichen Prüfungen und Nöte, die ein Einzelkind mit Zigeunern als Eltern so mitmacht. Die meisten meiner Abenteuer fanden in meinem Kopf statt. Ich war eine unersättliche Leseratte. Außer lesen gab es nichts zu tun. Meine Eltern kauften mir eine Menge Bücher - eine Wiedergutmachung für ihre ständige Abwesenheit, nehme ich an, auch wenn ich sie nie behalten durfte, wenn wir umzogen. Anfangs gaben sie mir langweilige Mädchenbücher wie die Malory-Towers-Reihe oder Der geheime Garten und Anne auf Green Gables zu lesen. Aber als sie die im Mülleimer wiederfanden, gaben sie frustriert auf und ließen mich die Bücher kaufen, die ich wollte. Also zog ich los und freundete mich mit Tom und Huck, Holden Caulfield und Freitag an - das waren die Geschichten und Figuren, die mich ansprachen.
Weil wir so oft umzogen, hatte ich nie viele Freunde. Da ich ein Einzelkind war, hatte ich auch keine Geschwister, mit denen ich hätte spielen können. Das machte mir aber nicht viel aus - es war schön, die gesamte Aufmerksamkeit zu bekommen - aber da meine Eltern die ganze Zeit arbeiteten, bekam ich diese
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