Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
wurden gerade von einer Kreatur besiegt, die ich mit Leichtigkeit zwischen meinen Fingern zerquetschen könnte.«
Pilatus war zu sehr Politiker, um zu sagen, was ihm auf der Zunge brannte. Zu professionell, um Herodes auch nur den Anflug einer verräterischen Miene sehen zu lassen. Herodes erhob sich, fest entschlossen, während seiner Argumentation auf den jungen Offizier hinabzublicken.
»Meine dreißigjährige Herrschaft über Juden hat mich eine ganz einfache Wahrheit gelehrt«, sagte Herodes. »Dass ihre Zeit auf dieser Welt beinahe zu Ende ist. Sie haben nichts außer alten Geschichten. Alten Traditionen. Sie haben nur Märchen von uralten Anführern und Königen, von uraltem Zauber und einem Messias, der ständig zu kommen verspricht, es aber nie tut. Alles an ihnen ist alt. Alles an ihnen ist Vergangenheit. Ich interessiere mich für neue Traditionen. Neue Reiche. Ich erbaue Neues, und sie protestieren. Ich verabschiede neue Gesetze, und sie protestieren. Doch ich höre nicht auf sie, weil ich die Zukunft bin. Und ich habe bestimmt keine Angst vor ihnen oder ihrem Gott. Denn die Zeit von Mose und David ist zu Staub zerfallen. Die Welt gehört jetzt Caesar. Sie gehört den Menschen. Und ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt.«
»Wie dem auch sei, Eure Hoheit, meine Männer haben Angst. Sie fürchten den Zorn dieser Macht. Dieses Gottes.«
»Wenn ich sie wäre, würde ich den Zorn des Augustus mehr fürchten.«
Visionäre Kraft. Es war die wichtigste Eigenschaft eines Anführers. Deshalb herrschte Herodes nun schon so lange und erfolgreich. Er wusste längst, woran er bei diesem jungen Offizier war. Diesem Pilatus. Er war ein Anführer, sicher. Aggressiv und gründlich. Vorsichtig genug, um zu vermeiden, eine kranke Hand zu küssen, aber schlau genug, um sich im Bruchteil einer Sekunde eine angemessene Alternative einfallen zu lassen. Doch ihm mangelte es an Fantasie. An visionärer Kraft. Und deshalb würde er nicht die Gipfel erreichen, nach denen er aufgrund seiner Intelligenz strebte. Wie immer trug Herodes die Verantwortung dafür, dass fortan alles glatt lief.
»Sie befinden sich auf dem Weg nach Süden, ja?«, fragte Herodes.
»Ja. Nach Ägypten.«
»Und der schnellste Weg nach Ägypten verläuft durch das Tal von Kadesch …« Visionäre Kraft, mein Junge. Ich werde dir zeigen, was das ist. »Wie ich höre, reist ein Schamane mit Euch«, sagte Herodes. »Eine Art … Seher.«
»Der Magier.«
»Ich würde mich sehr gern mit ihm unterhalten.«
»Was ist das? Ein Erdbeben?«, fragte Josef.
Balthasar erinnerte sich daran, als Junge in Antiochia ein ähnliches Geräusch gehört zu haben. Ein tiefes Grollen. Das langsame Stöhnen der Erde, die sich unter seinen Füßen bewegte. Doch jenes Grollen ging gewöhnlich mit einem heftigen Beben einher, fast augenblicklich gefolgt von den Schreien panischer Menschen. In diesem Fall blieb beides aus. Doch jene langsame, tiefe Klage von Fels, der sich über Fels bewegte, hielt an. Und die fünf Flüchtlinge suchten unwillkürlich nach dem Ursprung des Geräusches, das jetzt aus allen Richtungen zu dringen schien.
»Was ist das?«, wiederholte Josef.
Die Wüste hatte sie in das Tal von Kadesch geführt – einen langen, leblosen Durchgang zwischen zwei Bergen. Vor ewigen Zeiten hatte sich ein Fluss über den trockenen Boden geschlängelt, auf dem sie jetzt gingen, und die frühen Ägypter – die glaubten, dass Wasser die Macht besaß, Seelen ins Jenseits zu befördern – hatten ihre Toten an beiden Ufern in Grabkammern von unterschiedlicher Größe und Pracht bestattet. Überall um die Reisenden herum befanden sich lediglich die Überreste jener längst in Vergessenheit geratenen Gräber: manche in den Fels der Schlucht gemeißelt, andere aus aufeinandergeschichteten Steinen erbaut. Die Reichtümer darin waren vor langer Zeit Grabräubern zum Opfer gefallen.
Auf der Suche nach dem Ursprung des Grollens fanden Balthasars Augen endlich den Schuldigen:
Die Gräber.
Das erste Grab, das ihm auffiel, befand sich fast zweihundert Meter hinter ihnen. Es war eine große Grabstätte, die in den linken Berghang gehauen war, verziert mit Meißelarbeiten, die der Wüstenwind abgetragen hatte. Die gewaltige Steinplatte am Grabeingang tat sich auf, sodass die lange verborgene Dunkelheit im Innern zum Vorschein kam, und es erklang das tiefe Stöhnen von Fels, der sich über Fels bewegte – ein Geräusch, das dem Grollen eines Erdbebens nicht
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