Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
Reiches. In jener Nacht verschwand Balthasar, ohne seiner Mutter Bescheid zu geben. Oder mir.«
»Und dann?«, fragte Maria.
»Das musst du schon ihn fragen«, sagte Sela und hob den Blick zu Balthasar. »Damals sah ich ihn zum letzten Mal, bis vor drei Tagen.«
»Danach«, sagte Balthasar, »verbrachte er jede wache Minute damit, den Zenturio zu suchen. Auf der Suche nach Rache oder Gerechtigkeit oder wie auch immer man es nennen will. Er folgte Gerüchten von einer Stadt in die nächste. Stahl zum Überleben. Mordete. Bis er eines Tages, wie aus heiterem Himmel, aufwachte und erkannte, dass das Ganze sinnlos war. Das Leben ist nicht fair. Es gibt keine Gerechtigkeit – das Leben besteht nur aus dem, was einem weggenommen wird, und dem, was man sich zurückholt, und das war’s.«
»Wenn es so sein soll«, sagte Maria, »wird Gott dir den Zenturio ausliefern.«
»Gott hatte neun Jahre, um ihn mir auszuliefern.«
»Vielleicht ist das schon die ganze Zeit über sein Plan für dich.«
»Komm mir nicht mit ›Gottes Plan‹, ja? Was ist mit den Plänen, die Abdi hatte? Was ist mit den Kindern, die in Bethlehem starben? Die Babys, die umgebracht wurden, noch bevor ihr Leben auch nur begonnen hatte? Welche Pläne hatten ihre Mütter für sie?«
»Was ist mit den Plänen, die ich für uns hatte?«, fragte Sela.
Balthasar drehte sich zu ihr, starrte sie einen Moment lang an. Dann noch einen.
»Beeil dich, und still dieses Ding da fertig«, sagte er nach einer Weile zu Maria. »Wir müssen weiter.«
Mit diesen Worten verschwand er wieder in die Dunkelheit, entschlossen, noch ein paar weitere Minuten wütend und allein zu verbringen. Sela stand auf und verschwand ebenfalls, entschlossen, das Gleiche zu tun.
Maria war allein im dahinschwindenden Licht. Sie blickte auf das Baby in ihren Armen, das schlief und dabei trank. Bei seinem Anblick, so hilflos und vertrauensvoll, brach erneut der ganze Schrecken aus Selas Geschichte über sie herein. Sie stellte sich die Trauer vor, die Balthasars Mutter empfunden haben musste, als sie an einem Tag zwei Söhne verlor. Sie stellte sich das Gesicht des Zenturios vor, als er Abdis Hand zerquetschte, bis sie fast brach. Wie konnte jemand einem Kind so etwas antun? Ebenso wenig wusste sie, wie jemand weiterleben konnte, nachdem er mit angesehen hatte, wie einem geliebten Menschen etwas derart Gewaltsames widerfuhr.
Sie wusste nur, dass der schreckliche Mann nicht mehr ganz so schrecklich wirkte.
Herodes hätte nie im Leben damit gerechnet, so etwas zu Gesicht zu bekommen. Eine geschlagene römische Legion, die sich in der Judäischen Wüste ihre Wunden leckte. Das war nicht das Werk von Galliern oder Westgoten, sondern von Insekten. Es war natürlich unmöglich. Doch wenn man den Berichten Glauben schenkte, war genau das passiert.
Und warum sollte man ihnen nicht glauben? Wer würde sich solche Lügen ausdenken? Wer würde zugeben, von einem Insektenschwarm besiegt worden zu sein?
Herodes blickte durch die Vorhänge seiner Sänfte, deren ganze Last seine Sklaven auf den Schultern trugen. Er reiste nun schon den ganzen Tag und die halbe Nacht, um die Römer einzuholen, die er in seinem eigenen Königreich wie Hunde von der Kette gelassen hatte. Erfolgreicher als seine eigenen Truppen waren die Römer auch nicht gewesen. Ihm war klar, dass es eine Torheit gewesen war, Rom in die Sache hineinzuziehen. Ja, da war der Vorteil, dass er Augustus Caesar schmeichelte. Dass der Sieg auf Roms Konto gehen würde. Doch Herodes hatte die Alternative nicht bedacht: dass die Römer versagen könnten. Und wenn das geschah, würde die Schuld ganz allein bei ihm liegen.
Zu beiden Seiten brannten die Feuerstellen des Lagers und erhellten die Vorhänge seiner Sänfte. Römische Lager waren gewöhnlich voller Energie und Musik und Gespräche. Voll von der Ausgelassenheit ausgeruhter, mit Wein abgefüllter Soldaten. Doch dieses Lager war wie ein Friedhof. Die Männer saßen schweigend um die Flammen, verängstigt. Offensichtlich schwante ihnen allmählich, was Herodes längst wusste: Wir haben es hier mit mehr als einem Dieb und einem Baby zu tun. Sie verarbeiteten den Umstand, dass der Gott der Hebräer Partei ergriffen hatte. Dass er sie verhöhnte. Und auch wenn es sich nur um den Gott der Hebräer handelte, war es – milde ausgedrückt – taktisch von Nachteil, sich irgendeine Gottheit zum Feind gemacht zu haben.
Herodes hingegen war an dieses Gefühl gewöhnt. Der Gott der Hebräer
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