Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
nächstes Jahr – aber eines Tages. Er weiß, dass er über Rom stehen wird, während es auf die Grundmauern niederbrennt. Er tröstet sich mit diesem Wissen. Und obwohl er sonst nie betet, betet er darum. Er betet so ernsthaft, wie jemals gebetet wurde. Ein stilles Gebet, gleich dort auf dem Forum:
Schenk mir dies eine, o Herr … schenk mir dies eine. Lass mich das Gesicht meines Feindes wiedersehen. Lass ihn mich töten für das, was er getan hat. Lass mich dies tun, bevor mein Leben auf Erden zu Ende ist. Lass mich dies tun, was auch immer mich jenseits der Kluft des Todes erwartet. Es spielt keine Rolle, wie viel Zeit es kostet oder wie meine Strafe lautet.
Er zittert jetzt, schluchzt, während sich das Blut aus Abdis Körper in seinem Schoß sammelt. Auf dem Kopfsteinpflaster des Forums kniend, wiegt er ihn hin und her. Und aus irgendeinem Grund wandert mein Blick zu Abdis Kleidern, und ich sehe, dass er sich in die Hose gemacht hat. Und das lässt mir endlich die Tränen in die Augen steigen. Denn es macht deutlich, dass er nur ein Kind ist. Es zeugt von der Angst, die er empfunden haben muss, und raubt ihm den letzten Fetzen Würde. Und die Menschenmenge verläuft sich allmählich, aus Angst, die Römer könnten zurückkommen und uns alle bestrafen, weil wir zu viel Aufhebens von einem so kleinen Mord machen.
Balthasar schluchzt und schreit und wiegt seinen Bruder – unseren Sohn – in den Schlaf, genau wie früher am Ufer des Orontes, wenn Abdi im Schatten ihres Narbenbaumes ein Nickerchen machte. Und ich befinde mich neben ihnen auf den Knien, wiege mich selbst hin und her und schluchze. Doch ich kann nichts tun. Ich bin jetzt schon nutzlos, und ich weiß es.
Vergesst mich oder Balthasars Mutter oder sonst irgendjemanden. Balthasar ist allein. Doch schlimmer noch – so viel schlimmer noch – ist, was er in seinem Herzen weiß. Er weiß, dass es seine Schuld ist. Alles. Es ist seine Schuld, weil er so verantwortungslos war. Weil er einem kleinen Jungen das Stehlen beigebracht hat. Weil er einer guten Seele ein schlechtes Beispiel gewesen ist. Und er weiß, dass irgendeine unsichtbare Macht ihn dafür bestraft, was er mit seinem eigenen Leben angefangen hat. Für die unverzeihlichen Sünden, die er begangen hat. Er weiß, dass Gott ihn hasst. Hier ist der Beweis, in seinen Armen. Was für ein Gott könnte dies tun? Nur ein Gott, der hasst.
Und er hat nur noch ein einziges, einfaches Ziel. Er ist jetzt tot. Im Leben gibt es keine Konsequenzen mehr. Er ist tot, und die Toten haben die Lizenz, die Lebenden zu töten. Er ist tot, und Gott hasst ihn. Hier ist der Beweis – genau hier, und verblutet in seinem Schoß. Doch Balthasar wird sich nicht damit zufriedengeben, von Gott gehasst zu werden. Er wird Gottes Hass erwid…
Sela brach mitten im Satz ab. Die Wüste war beinahe völlig dunkel geworden, doch sie spürte, dass Balthasar über ihr stand. Sie sah auf, und da war er, ragte über den beiden sitzenden Frauen und ihren tränenverschmierten Gesichtern empor. Ein schattenhafter Umriss vor dem blassen Himmel und den ersten Sternen, die die Nacht begrüßten.
»Fahre fort«, sagte er. »Hör doch nicht an der Stelle auf.«
Sela versuchte sich einzureden, dass es ihr gleich war, was Balthasar dachte. Doch sie schämte sich trotzdem ein wenig, weil sie sein dunkelstes Geheimnis mit Außenstehenden geteilt hatte. Maria hatte recht. Ihr lag immer noch so viel an ihm, dass sich ihr schlechtes Gewissen regte, weil sie etwas derart Persönliches verraten hatte.
»Fahre fort«, sagte er erneut, in einem Tonfall, der weniger nach einem Vorschlag, sondern eher nach einer Drohung klang.
»Balthasar, ich …«
»Erzähl es ihr«, sagte er. »Erzähl ihr, was als Nächstes passiert ist.«
Sela seufzte. Widerspruch war zwecklos. Der Schaden war nun einmal angerichtet. Der Schaden war vor langer Zeit angerichtet worden. Sie wandte sich wieder Maria zu und fuhr fort.
»Er suchte wochenlang ganz Antiochia ab und stellte Fragen. Spionierte die römische Kaserne aus in der Hoffnung, einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der seinen Bruder umgebracht hatte, einen Blick auf den Anhänger, der an dessen Hals hing. Ich sah ihn kaum noch, und wenn doch, dann gab er so gut wie kein Wort von sich. Und dann, eines Tages, fand er, wonach er gesucht hatte. Einen Hinweis. Jemand hatte gesehen, wie der Zenturio seine Siebensachen packte und Antiochia verließ, auf dem Weg zu einem neuen Posten in einem anderen Teil des
Weitere Kostenlose Bücher