Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Titel: Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seth Grahame-Smith
Vom Netzwerk:
– auf die Dämonen, die mit ihren trockenen Fingern nach ihm griffen. Bei ihren Bewegungen knackten ihre Knochen, und ihre Haut riss.
    Auf einmal war er wieder zwölf. Inmitten von Leichen, die die Römer verscharrt hatten, grub er die kürzlich erschlagenen Toten aus. Plünderte sie. Er kämpfte die Angst nieder, die furchterregenden, beinahe realen Visionen von zum Leben erweckten Leichen. Visionen der Toten, die ihn an der Kleidung und den Haaren packten. Ihn mit sich in die Gräber zogen. Doch das waren lediglich Trugbilder gewesen. Die Ungeheuer vor ihm waren real. Sie bewegten sich ohne Blut in den Adern, ohne Herzen in ihren Brustkörben. Sie hatten keine Lungen oder Stimmbänder, und dennoch stieß jeder von ihnen ein seltsames Geräusch aus. Ein keuchendes, kehliges Stöhnen, das sich für Balthasar wie ein endloser letzter Seufzer anhörte. Zusammen bildeten sie einen gruseligen Chor.
    Da ist etwas mit dem Baby.
    Vielleicht würde er nach seinem Tod herausfinden, was es war. Etwas wartete auf ihn. Und was war mit den Träumen, die er gehabt hatte, als er aufgrund der Schwertwunde im Sterben lag? Was war mit diesen seltsamen Visionen von alten Männern in rosa- und purpurfarbenen Zimmern? Und was war mit dem Mann mit Flügeln ? Dessen Gesicht Balthasar zum Weinen gebracht hatte?
    Abdis Gesicht.
    Er war es gewesen, nicht wahr? Abdi, der Erwachsene, zu dem er nie geworden war? Ein Mann mit Flügeln, der seinen großen Bruder festhielt und über die Judäische Wüste flog? Der ihn durch ein Meer aus Raum und Zeit führte? Balthasar hatte es für eine Vision gehalten. Nichts weiter als die lebhaften Träume eines sterbenden Geistes. Doch jetzt, da er dem Tod sowohl buchstäblich wie auch in übertragenem Sinne ins Gesicht starrte, akzeptierte er, dass es vielleicht mehr gewesen war. Ja, er hoffte es.
    Balthasar stach und trat und hieb auf die Leichname ein, doch sie drängten sich schneller um ihn, als er sich zur Wehr setzen konnte. Ein schreckliches Gesicht nach dem anderen erschien vor ihm. Eine Hand mit spröden mumifizierten Fingern nach der anderen griff nach ihm – und die uralten Fingernägel kratzten ihn. Packten ihn an der Kleidung. Wenn ich nur eine Fackel hätte, dann könnte ich sie in Brand stecken. Sie sind so trocken, dass sie wie ein von der Sonne ausgedörrtes Strohdach in Flammen aufgehen würden. Doch er hatte lediglich ein Schwert und zwei rasch ermüdende Arme, mit denen er es schwingen konnte.
    Sie werden siegen.
    Es bestand kein Zweifel. Und als sie über ihn herfielen, schrie Balthasar. Nicht aus Angst, sondern weil er wusste, dass dies sein Moment war – die letzte Chance, seine Gegenwart auf dieser Welt bekanntzugeben. Er schrie, bis er Blut in der Kehle schmeckte, während der Schwarm aus Toten ihn vollständig umhüllte.
    Endlich Friede …
    Und während er schrie, fielen die Toten auf einmal reihenweise zu Boden, als hätte man in einem Schwung die Fäden durchgeschnitten, an denen ihre Gliedmaßen hingen. Und mit einem dumpfen, staubigen Aufschlag waren sie erneut nichts weiter als Sehnen und Knochen. Still. Balthasar stand schwer atmend da. Voll Ehrfurcht vor dem Anblick. Ein bisschen ehrfürchtig vor sich selbst.
    Er hatte gesiegt.
    Dank eines Wunders war er verschont worden. Genau wie er vorhergesagt hatte, war ihm im letztmöglichen Augenblick eine unsichtbare Macht hold gewesen. Wenn die Juden sie Gott nannten, sollte es ihm recht sein. Ob es nun Gott war oder Glück oder etwas anderes, war nicht wichtig. Wichtig waren die anderen. Er konnte sie jetzt einholen. Sie nach Ägypten bringen und seiner eigenen Wege gehen. Gott sei Dank. Oder wem oder was auch immer.
    Doch gerade als er sich einen kleinen Sieg gönnte, einen kurzen Augenblick der Unvoreingenommenheit, machte ein weiteres Grollen kurzen Prozess mit seinem Optimismus. Balthasar sah sich um, weil er mit einer zweiten Woge verwester Geschöpfe rechnete, die aus ihren Grabstätten hervorkamen. Doch da war nichts. Nichts außer dem Grollen. Eine andere Art von Grollen, wenn ich es mir recht überlege. Eine viel … vertrautere … Art von …
    Es war das Donnern von Hufen auf dem Wüstenboden.
    Balthasar sah über die leblosen Körper auf dem Boden vor sich hinweg – hoch, hoch –, bis er etwa tausend Pferde erblickte, die in der Mitte des schmalen Tales aus dem Norden auf ihn zugeritten kamen. Er konnte die Gesichter der Reiter nicht ausmachen, doch er stellte sich vor, dass die meisten die eingebildete,

Weitere Kostenlose Bücher