Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
hatte.
Die Zisterne grenzte an einen Markt an der Nordmauer des Großen Tempels – eine Ansammlung von Händlern und Verkäufern, die sich mehrere Häuserblocks weit erstreckte. Nachdem Balthasars Durst gelöscht war, besaß er endlich wieder die Geistesgegenwart, einen weiteren Plan auszuhecken.
Zuerst nutzte er seine alte Fingerfertigkeit, ging von einem Ende des Marktes zum anderen und stahl Münzen aus den Taschen von Passanten und kleine Wertgegenstände von den Händlern, die ihren Laden noch nicht wegen der Hinrichtung dichtgemacht hatten. Er nahm sich kleinen Goldschmuck, Weihrauch, Dinge, die sie in den kommenden Tagen gegen Nahrungsmittel und Gefälligkeiten eintauschen konnten.
Als Nächstes kaufte er mithilfe der gestohlenen Münzen so viel Essen und Wasser, wie er und die anderen tragen konnten. Balthasar erstand zudem etwas Myrrhe, um seine Wunden zu behandeln – ein Kniff, den er als Junge bei den asiatischen Händlern auf dem Forum gelernt hatte. Ein kleiner Teil des gestohlenen Schmuckes wurde darauf verwendet, jedem von ihnen ein Kamel zu kaufen. Kamele, auf denen sie an den Tempelmauern vorbei gen Süden ritten. Die Männer hatten keine Ahnung, wohin es gehen sollte, und es war ihnen auch egal, solange es nur weit weg von Jerusalem war.
Falls Caspar und Melchyor auch nur die geringsten Zweifel daran gehegt haben sollten, dass es sich bei ihrem Gefährten tatsächlich um den Geist von Antiochia handelte, wurden diese von dem Geschwätz auf den Straßen Jerusalems beigelegt. Die ganze Stadt schien von nichts anderem als der Hinrichtung zu sprechen. » Der Geist von Antiochia « war in aller Munde. Balthasar hatte diesen Dieben das Leben gerettet, und sie standen in seiner Schuld. Laut Tradition waren sie seine Diener, bis diese Schuld mit gleicher Münze beglichen war. Es war ein Kodex, so alt wie die Wüste, und er galt für Berufsverbrecher ganz genauso wie für alle anderen Menschen. Selbst Balthasar, der sonst jegliche Tradition verachtete, hatte sich in der Vergangenheit an diese gehalten. Es war keine Tradition im religiösen Sinne, wie etwa das Gebot, dieses Tier anstelle von jenem zu verspeisen oder diese Kopfbedeckung oder jene oder überhaupt keine zu tragen. Es handelte sich einfach um gesunden Menschenverstand.
Jeder Dienst hatte seinen Preis. Jeder Gegenstand hatte seinen Wert. Wenn jemand einem ein Schwert anfertigte, bezahlte man ihm die angemessene Summe oder tauschte etwas Gleichwertiges dagegen ein. Wenn einem ein Mann das Leben rettete, bezahlte man ihm entweder die Summe, die dieses Leben dem eigenen Ermessen nach wert war, oder man rettete ihm im Gegenzug das seine. Bis eines von beidem geschehen war, stand man in seiner Schuld. Es handelte sich um ein Geschäft. Und wenn Balthasar an irgendetwas mit religiösem Eifer glaubte, dann ans Geschäft.
Alles hatte seinen Preis. Und obwohl er noch nicht wusste, dass seine Freiheit die Weisen den Kopf gekostet hatte, wusste Balthasar, dass er eben den Preis für den seinen in die Höhe getrieben hatte.
Schreie hallten im Thronsaal des Herodes wider. Die Diener hatten sich verzogen, weil sie Angst hatten, wegen irgendeines läppischen Vergehens zum Tode verurteilt zu werden. Die Berater hielten sich in den Ecken des Saals auf – fern von dem warmen, flackernden Schein der Fackeln, fern von dem kühleren Mondschein, der ungewöhnlich intensiv durch die Fenster hereingeströmt kam. Sie duckten sich in die Schatten, versteckten sich sogar hinter den Pfeilerreihen, die an beiden Seitenwänden entlangführten.
Der König ging vor den Stufen seines Thrones auf und ab, den Körper vornübergebeugt. Drei judäische Generäle standen vor ihm, Helm unter dem Arm, mit eingezogenem Kopf und eingezogenem Schwanz.
»Es ist mir einerlei, ob ihr diese ganze Stadt niederbrennen müsst, um ihn zu finden! Ich lasse mich doch nicht von einem gemeinen Dieb lächerlich machen!«
Seine ohnehin raue Stimme war bis an ihre Grenzen belastet worden. Die letzte Stunde hatte er damit zugebracht, jeden zu verfluchen, der es wagte, in sein Blickfeld zu geraten. Er verlangte, dass die Köpfe all derer rollten, die auch nur den kleinsten Part bei seiner Demütigung gespielt hatten: die Kerkerwächter, die Wachen am Nordtor, selbst der Henker. Alle waren so gut wie tot.
»Ich will, dass jede Legion, jeder waffenfähige Mann, jedes Pferd und jedes Schwert Jagd auf ihn macht, und ich will, dass er mir lebend gebracht wird!«
Sogar sein geliebter Sohn Antipas
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