Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
Bestes getan zu verbergen, wie sehr ihn die Begegnung mit einem derart seltsamen, gefährlichen kleinen Mann ängstigte. Auf das merkwürdige Erscheinungsbild des Magiers war er gefasst, doch nichts hatte ihn auf diese durchdringenden schwarzen Augen vorbereitet. Er hatte das Gefühl gehabt, dass die Augen durch ihn hindurchschauten, dass sie in seinen Kopf sahen. Seine Gedanken lasen. Am zermürbendsten war, dass der Magier ganz genauso aussah, wie Julius Caesar ihn in seinem Brief vor vierzig Jahren beschrieben hatte.
Dass er in der ganzen Zeit keinen einzigen Tag gealtert war, machte Pilatus nur noch nervöser.
»Er spricht nicht«, sagte Augustus, »aber er wird dir alles mitteilen, was du zu wissen brauchst. Hör auf ihn, Pilatus, und bringe ihn mir unversehrt zurück. Ich vertraue dir meinen wertvollsten Besitz an.«
Und hier war er nun, allein am Bug der Heptares , der verantwortliche Befehlshaber über zehntausend Männer und einen Mystiker. Pilatus spürte, wie er mit jeder Meile seinem Ruhm, seinem Schicksal näher kam. Mehr war das hier schließlich nicht – bloß das Schicksal, das seinen Lauf nahm, Meile für Meile. In seinem Leben gab es keine Zufälle. Pilatus glaubte, dass die Götter für uns alle einen Plan hatten. Und welche Abzweigungen er auf seinem Lebensweg auch immer einschlug, war er doch der festen Überzeugung, dass er früher oder später großer Macht begegnen würde. Sein Name würde durch die Zeitalter widerhallen, unsterblich.
Wenn das Meer einem hold war, dauerte es gewöhnlich sieben Tage, per Schiff von Rom nach Judäa zu segeln. Bei diesem Tempo würde Pilatus dieser großen Macht in weniger als zweien begegnen.
Maria ritt hinter einem schrecklichen Mann. Ja, er war um ihretwillen zurückgekehrt, hatte sie alle vor den Leuten des Herodes gerettet, und dafür war sie dankbar. Dankbar genug, alles aufs Spiel zu setzen, um im Gegenzug ihm das Leben zu retten. Doch Maria konnte es kaum erwarten, Ägypten zu erreichen und ihn für immer los zu sein.
Glücklicherweise stand die Sonne am Himmel allmählich niedriger, auch wenn der Sand immer noch Hitze verströmte und sie von den Fußsohlen bis zu ihren Kopfbedeckungen wie in einem Ofen buk. Wenigstens schien das Baby momentan satt und glücklich zu sein. Seine blauen Augen blinzelten zu ihr auf, und die Lider darüber wurden immer schwerer. Sie goss sich Wasser aus ihrer Feldflasche auf die Hand und strich dem Baby damit über die Kopfhaut, um es zu kühlen. Sie richtete ihr Gewand und versuchte, das Gesicht des Kindes gegen die Sonne abzuschirmen, während sie eine ihrer Lieblingsgeschichten aus der Heiligen Schrift vor sich hin flüsterte, um ihren Sohn in den Schlaf zu lullen, den sein Körper so sehr brauchte:
Da murrte das Volk gegen Mose. »Warum hast du uns hierhergeführt?«, fragten sie. »Gab es keine Gräber mehr in Ägypten? Hast du uns in die Wüste gebracht, damit wir verdorren und sterben?« Und Mose sagte: »Der Herr hat mir befohlen, denn ihr wart die Sklaven eines grausamen Pharao – und es ist besser, in der Wüste zu sterben, denn als Sklave.«
Als kleines Mädchen hatte Maria sich diese Geschichten selbst zugeflüstert – eine Methode, ihren rastlosen Geist zu beruhigen und Trost zu finden, wenn sie Angst hatte oder nervös war. Sie stellte sich die Heilige Schrift als unerschöpflichen Quell dieser Geschichten vor. Ein Ort, an dem sie sich immer laben konnte, selbst hier in der Wüste.
Als Frau war es ihr versagt, die Schriftrollen zu studieren, auf denen sie geschrieben standen. Doch es war ihr gestattet, hinten in der Synagoge zu sitzen und den Männern zu lauschen, die sie vorlasen. In ihrer Jugend war sie von diesen Geschichten begeistert gewesen: Jona im Bauch des Wales, die Torheit, einen Turm in den Himmel zu bauen, die Prüfung von Noahs Glauben vor der Sintflut. Und selbst wenn sie es niemals laut sagen würde, war sie stolz darauf, diese Passagen besser zitieren zu können als viele der Männer, die sich in der Hitze der Synagoge Luft zufächelten und unter ihren Kopftüchern heimlich einnickten. Folgende Stelle war ihr aus dem Nichts in den Sinn gekommen:
»Fürchtet euch nicht!«, sagte Mose. »Bleibt stehen und schaut zu, wie der Herr euch heute rettet. Der Herr kämpft für euch, ihr aber könnt ruhig abwarten.«
»Was murmelst du da hinten vor dich hin?«, fragte Balthasar.
»Ich murmele nicht. Ich erzähle eine Geschichte, damit er besser einschlafen kann.«
»Tja … erzähle
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