Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
leiser.«
Maria biss sich verärgert auf die Lippe. Jämmerlicher Tropf! Liebloser, kalter Schuft! Kurzzeitig saß sie schweigend da und rief sich ins Gedächtnis, dass jeder Schritt des Kamels unter ihr einen Schritt weiter nach Ägypten bedeutete. Doch ohne die besänftigende Stimme der Mutter wurde das Baby erneut unruhig. Bald würde es wieder weinen, und der unerträgliche Mann vor ihr würde nur noch unerträglicher werden. Schön. Wenn du mich nicht flüstern lässt, wirst du dich eben mit mir unterhalten müssen.
»Kennst du die Heilige Schrift?«, fragte sie.
Balthasar verdrehte die Augen. Schon wieder! Was war nur mit diesen Leuten los? Warum konnten sie ihren Wahn nicht für sich behalten?
»Das ist jetzt vielleicht ein Schock für dich«, sagte er, »aber nicht jeder Mensch auf der Welt ist Jude.«
»Nein … aber sogar die Römer haben ihre heiligen Geschichten. Dein Volk doch bestimmt auch.«
»Uralter Humbug, von toten Narren aufgezeichnet. Genau wie eure Heilige Schrift.«
»Wie kannst du das sagen, wo doch Gott zu dir gesprochen hat?«
»Gott hat nie zu mir ›gesprochen‹. Und ich fände es toll, wenn du es genauso halten würdest.«
»Und dein Traum? Zacharias hat gesagt, Gott habe dich auserwählt.«
»Er hat gar nichts auserwählt.«
»Aber woher willst du das wi…«
»Weil ›er‹ nicht existiert.«
Maria konnte nicht glauben, dass jemand so etwas sagte. Grausam und lieblos zu sein war eine Sache. Aber gotteslästerlich?
»Aber … das ist lächerlich. Wer hat die Plagen über Ägypten hereinbrechen lassen? Wer hat die Erde unter uns erschaffen? Die Sterne über uns? Wer hat den Menschen erschaffen?«
»Es ist zu heiß, um zu streiten. Besonders mit einer Frau.«
»Ich will mich ja nicht streiten. Es ist nur … ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der nicht an Gott geglaubt hat.«
Balthasar drehte sich um und starrte sie zornig an. Die Verachtung auf seinem gerunzelten Gesicht überraschte Maria.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Du bist ein dummes kleines Mädchen aus einem dummen kleinen Dorf voller Eiferer. Das hier ist die Realität.«
»Aber ein Leben ohne Gott ist …«
»Ist was? Was ist denn so toll an eurem Gott? Erzähl mir mal, was so toll ist an einem Gott, der nichts tut, während Säuglinge von Schwertern aufgespießt werden. Schwerter, die übrigens von seinen treuen Anhängern geführt werden. Sag du mir, was für ein Gott das ist.«
Maria blieb ihm eine Antwort schuldig.
»Entweder habe ich recht«, fuhr er fort, »und es gibt ihn nicht, oder du hast recht, und er ist die Art Gott, die tatenlos zusieht, wie Kinder sterben. Die Art Gott, die herumsitzt, während Männer wie Herodes Paläste erbauen und brave Menschen verhungern. So oder so ist er es nicht wert, angebetet zu werden.«
Maria saß schweigend da. Sie hatte noch niemals gehört, wie jemand den Herrn derart anprangerte. Natürlich gab es ihn. Etwas anderes zu denken käme dem Eingeständnis gleich, dass alles, woran sie glaubte, eine Lüge war. Schlimmer noch, es würde heißen, dass sie verrückt war. Doch Balthasars Worte verwirrten sie.
»Alle Menschen brauchen etwas, woran sie glauben können«, sagte sie nach einer Weile.
Ohne hinzusehen, griff Balthasar nach unten und zog sein Schwert aus der Scheide.
»Tja … du hast deine Waffe«, sagte Maria, »und ich habe meine.«
Balthasar steckte das Schwert weg und wandte sich wieder der Wüste zu.
»Meine gefällt mir besser«, sagte er.
Die Nacht war über die Wüste hereingebrochen.
Zehntausend römische Soldaten standen in Formation, und der Fackelschein spiegelte sich in ihren polierten Helmen und Schilden. Sie alle waren einem behelfsmäßigen Altar aus aufeinandergeschichteten Steinen zugewandt. Wie Pilatus vorhergesagt hatte, hatten sie die Küste Judäas in weniger als zwei Tagen erreicht. Schneller, als es die meisten der versammelten Männer für möglich hielten. Manche bezeichneten es als Wunder. Doch es war lediglich ein Vorgeschmack auf die außergewöhnlichen Dinge, die da noch kommen sollten.
Vor ihnen brannten zwei große Scheiterhaufen – je einer zu beiden Seiten des Altars, an dem der Magier vor dem Kadaver eines Opferlammes stand. Die Kehle des Tieres war durchgeschnitten, und sein Blut in einer Schüssel aufgefangen. Unter den Blicken der Männer tauchte der Magier die Finger in das Blut und zeichnete sich damit einen Strich quer über die Stirn. Er tauchte sie ein zweites Mal ein und fuhr damit über die
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