Die Nachhut
wie wir nicht ständig darüber berichten würden.
Kein Ahnung, ob da was dran war, Henne oder Ei - aber ich wusste: Man konnte das auch anders sehen. Einige DJ-Kollegen zum Beispiel trauten sich wegen ihrer Hautfarbe nicht mehr ins Umland von Berlin. Ihre Angst hatte mich oft beeindruckt, auch wenn ich sie nicht verstand: Wer wollte schon in der Pampa Musik auflegen? In den wichtigen Clubs der Hauptstadt gab es keine Nazis, also konnten die einen im Großen und Ganzen mal. Abgesehen davon, war eine bewaffnete Geiselnahme in jedem Fall eine Story.
»Aber das sind doch keine Jugendlichen, Gerd!«
Mein halbherziger Einwand löste eine gewisse Unruhe unter den Leuten aus, die immer noch mit uns am Friedhofstor standen. Allerdings galt ihre Aufmerksamkeit mehr dem Pfarrhaus, wo nach und nach alle Gardinen zugezogen wurden. Auch Busch sah kurz auf, widmete sich dann aber wieder seiner Kamera.
»Es kommt nicht auf das Alter an, ob sie von gestern sind oder von heute. Selbst wenn sie nur den Fasching verpasst haben: keine Sekunde Werbung für solche Spinner. Keinen Millimeter Film. Keine Bühne. Nicht mit mir!«
»Aber du hast doch bis eben selbst noch gedreht...«
»War nur ein Reflex.«
»Und wenn es eine echte Geiselnahme ist?«
»Dann erst recht nicht.«
Leider registrierte Jenny gar nicht mehr, wie ich mich für ihre Sache ins Zeug legte. Sie stand ein paar Meter abseits und telefonierte. Wahrscheinlich wollte sie unsere Mitarbeit nun von oben erzwingen. Ich fand das nicht besonders kollegial und bei Busch sowieso zwecklos. Aber so zornig und ungekämmt, wie sie an einem Verkehrsschild lehnte, bewunderte ich sie fast ein wenig dafür: Offenbar hatte sie wirklich nur ihre Reportage im Kopf. Auch Busch fürchtete jetzt das Schlimmste.
»Das Küken soll damit aufhören, sag ihr das! Wir machen uns alle lächerlich mit diesem Scheiß!«
Er murmelte noch ein paar Flüche in seinen Schnauzer, aber konnte nicht wirklich von mir erwarten, etwas gegen Jenny zu unternehmen. Sie war Redakteurin, genau genommen auch seine Chefin. Außerdem sah ein Faschingsumzug wirklich anders aus. Und Nazis hin oder her - allein der Elan dieses Mädchens, auch wenn er mir immer fremd bleiben würde, war beeindruckend.
»Dann gib mir halt die Kamera«, sagte ich zu Busch.
»Nein.«
»Wenigstens die kleine Diggi?«
»Nein!«
Da kam Jenny auch schon zurück und strahlte: »Wir sollen auf jeden Fall alles versuchen, dranbleiben und ...«
»Das glaub ich nicht«, schnaubte Busch, »hast du denen auch erzählt, was die anhaben, wie alt die sind und alles?«
Jenny zuckte nur die Schultern und grinste.
»Mit wem hast du gesprochen«, fragte er und zückte ebenfalls sein Handy: »Jetzt sag schon: Wer hat Dienst?«
»Gruber.«
Busch lachte hysterisch auf, als wenn er den Chef vom Dienst schon so gut wie im Sack hätte, stellte wütend seine frisch geputzte Kamera in den Dreck und ging ein paar Meter zur Seite, um seinerseits im Sender anzurufen. Es war wie im Kindergarten - aber Jenny schien es Spaß zu machen.
»Hat er Angst?«, fragte sie spitz.
»Quatsch!« Das war es wirklich nicht. »Ich glaube, für ihn hat das was mit Haltung zu tun oder so.«
»Und was ist mit dir?«
Ich sah zu Boden. In der Kamera steckte ein frischer Akku. Hielt sie uns wirklich für Feiglinge?
»Ich bin kein Kameramann«, sagte ich.
»Aber du könntest es auch, oder?«
Ich drehte mich nach Busch um, der ungeduldig hin und her stapfte und offenbar auf eine Verbindung mit Gruber wartete.
»Bitte«, sagte Jenny leise.
Sie sah mir in die Augen, als hinge ihr Leben davon ab. Ich versuchte, mit aller Kraft an die vier durchgeknallten Opas zu denken, an ihre Knarren und wusste genau, das war der Moment, um es mir entweder mit Jenny oder meinem Chef ein für alle Mal zu verderben. Doch immer wieder drängte sich etwas dazwischen, ein ganz und gar ungewohntes Gefühl. So muss sich Ehrgeiz anfühlen, dachte ich, eher ungesund und anstrengend - aber wer weiß: War diese ideologische Blockade bei Busch vielleicht eine echte Chance für mich?
Er hatte endlich jemanden am Telefon, schlug sich einen Handballen an den Kopf und brüllte wahrscheinlich gerade Herrn Gruber an, den armen Kerl. Ich griff nach der Kamera. Sie war viel schwerer als sonst. Aber Jennys Lächeln machte sie schnell wieder leichter. Mit einem kurzen Anlauf sprang ich über die Friedhofsmauer. Weder die Gaffer noch die Leute im Pfarrhaus hatten etwas gemerkt. Busch würde klug genug sein,
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