Die Nachhut
uns nicht sinnlos hinterher zu brüllen - hoffte ich. Wie ein blöder Indianer duckte ich mich hinter schiefe Grabsteine, schlich um das Pfarrhaus und entdeckte an seiner Rückseite eine kleine Veranda aus Holz. Ein Fenster stand offen, darunter blühten Osterglocken. Ich drehte mich nach Jenny um, von der ich dachte, sie hält sich knapp hinter mir. Aber sie kauerte immer noch im Schatten der Mauer und reckte nur aufmunternd einen Daumen nach oben, als sei ich ihr Held.
So war das also: Sie hatte mich vorgeschickt, um später den Ruhm zu ernten. Aber nicht mit mir - das war weder diese Geschichte noch dieses Mädchen wert. Gerade wollte ich zurückschleichen, da bewegte sich die Gardine in dem offenen Fenster vor mir, und ich erstarrte. Wo ich hockte, gab es keinerlei Deckung. Sie konnten mich jeden Moment entdecken und erschießen. Also rannte ich lieber die letzten Meter zum Haus, bis ich mit dem Rücken zur Wand im toten Winkel unter dem offenen Fenster saß, die tonnenschwere Kamera auf den Knien, schwitzend, bebend, lauschend.
Irgendetwas wummerte mit etwa 150 Beats pro Minute in meinen Ohren. Erst hielt ich es für meinen Puls, bis ich die aktuelle Single von Madonna erkannte. Kein schlechtes Stück eigentlich für so eine Diskonummer - nur viel zu laut für jede Situation, die ich mir in diesem Haus vorstellen konnte. Ab und zu waren auch ein paar Wortfetzen zu verstehen.
Vor allem war da die Stimme von Pfarrer Kuhn, der brüllend zu erklären versuchte, dass die Leute vor der Tür auch Deutsche seien oder so ähnlich. Mehrere andere Stimmen widersprachen ihm, aber waren kaum zu verstehen, und das lag nicht nur an Madonna. Die Entführer benutzten einen Dialekt, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Sie kannten nur einen Vokal. Alles klang nach U, vor allem A und O, manchmal sogar ihr E. Dann sagte auch noch jemand »den nächsten Clip« an. Es war nicht zu fassen: Der Pfarrer hielt eine Predigt, die alten Säcke unterbrachen ihn ständig und nebenbei lief MTV.
Nach den ersten Takten einer Hip-Hop-Nummer befahl jemand, »duse Negurmusik« auszumachen. Doch niemand reagierte. Stattdessen hörte ich eine Tür auf- und zuschlagen, und der Pfarrer forderte seine Gäste freundlich auf, sich zu bedienen: Das Pflaumenmus sei von seiner Frau, der Schinken von Bioschweinen. Und eine Frau, wahrscheinlich Frau Kuhn, bot an, sie könne auch noch mehr Apfelsaft bringen, aus ungespritzten Äpfeln.
Der Fernsehlärm, die absurden Gespräche - Neugier und Übermut waren sicher auch dabei, als ich die Kamera vorsichtig über den Fenstersims hob. Mit dem Okular nach unten konnte vielleicht ich einen Blick riskieren, ohne sofort erschossen zu werden, und war ziemlich enttäuscht: Eine gemütliche Frühstücksrunde, mehr sah ich nicht.
Die Frau des Pfarrers reichte ein Tablett mit belegten Broten herum. Der Kräftige mit dem kaputten Bein und sein Anführer im Rollstuhl saßen an einem runden Tisch in der Mitte des Raumes und griffen ungeniert zu. Vor der Glotze klebte ein etwa zwölfjähriger Junge und starrte hinein, als hätte er noch gar nicht mitbekommen, dass sich ein schwer bewaffneter Mann über ihn beugte. Er hätte sein Urgroßvater sein können, aber schien von der hüpfenden Boygroup genauso gefesselt zu sein.
Ganz links in einer Ecke saß die Statue steif auf einer Stuhlkante. Die Maschinenpistole ruhte griffbereit auf seinen Knien und diente gleichzeitig als Stütze für ein Heft, in das er pausenlos schrieb.
»Und«, brüllte Pfarrer Kuhn, »schmeckt es?«
»Jetzt mach endlich das Ding aus, Josef!« Krümel flogen dabei aus dem weitgehend zahnlosen Mund des Rollstuhl-Männchens. »Was ist das überhaupt für ein verdummter Kasten?«
Während ihm Frau Kuhn sein Brot klein schnitt, als sei das die normalste Sache der Welt, suchte ihr Mann nach einfachen Worten für die Funktion des »verdummten Kastens«. Er klang wie der Mann aus der Sendung mit der Maus und erklärte, ein Fernseher empfange Wellen aus einem Sendestudio und wandle sie mithilfe von Röhren in Bilder um. Heutzutage erledigten das zwar Transistoren, aber das musste ein Pfarrer nicht wissen.
»Also Tunfilm für Juden?«
»Nicht nur für Juden, Jude - für jeden!«
Der, den sie den »Juden« nannten, sah immer noch fasziniert über die Schulter des Jungen. Der Steife hatte ihn zurechtgewiesen. Er war der Einzige ohne diesen U-Fehler, zweifellos auch der Gefährlichste, und beugte sich sofort wieder über seine Notizen. Zwei Meter neben
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