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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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Straßensperre seinen Presseausweis zückte und drei Sekunden später im Straßengraben lag. Zwei Polizisten fesselten ihm die Hände auf den Rücken, einer setzte sich oben drauf. Und obwohl ich mich weder wehrte noch die Bullen als Faschisten beleidigte wie er, lag ich genauso daneben.
    »Ihr Schweine«, schimpfte Busch, »das macht euch Spaß, nicht wahr?« Und er hörte auch nicht auf, als der Beamte über ihm zur Strafe sein Gewicht verlagerte. »Wenn ihr nur könntet, wie ihr wolltet! Ihr wärt doch auch alle KZ-Aufseher geworden!« Busch stöhnte erneut vor Schmerz und drehte danach sein Gesicht zu mir. »Hast du dich mal gefragt, Monse, wo die ganzen Folterknechte damals herkamen? Jetzt weißt du Bescheid.«
    Ich schloss die Augen und sagte nichts. Er sollte einfach den Mund halten, dachte ich, und nicht alles noch schlimmer machen. Doch er dachte gar nicht daran.
    »Was ist? Hast du etwa Angst? Du musst reden, damit sie dich überhaupt als Mensch wahrnehmen. Alter Demotrick. Komm schon, Monse, sprich mit mir: Wärst du auch gern zur SS gegangen damals, so wie diese beiden Arschgeigen hier?«
    Ich bat die Polizisten mit einem zaghaften Lächeln um Verständnis für meinen Kollegen. Ein Beamter stand mit unseren Ausweisen vor einem Kleinbus und wartete offenbar auf eine Anweisung per Funk. Irgendeinem Vorgesetzten würde schon auffallen, dass wir zu jung waren für die, die sie suchten. Ich zumindest.
    Busch aber wollte es unbedingt wissen und ich konnte es einfach nicht fassen, wie er in dieser Situation solche Diskussionen anfangen konnte: »Ich meine es ernst, Monse: Wenn sie dir einen ruhigen Posten beim Radio angeboten hätten oder als DJ an der Front: Hättest du dann heimlich zur Fahnenflucht aufgerufen oder weiter Lili Marleen aufgelegt? Wärst du ein Held gewesen oder ein Feigling, der brav die Schnauze hält - genau wie jetzt?«
    Er grinste, wollte mich provozieren, wahrscheinlich war er das von früher sogar gewöhnt, ab und zu mal ein Polizistenknie im Kreuz zu haben. Für mich aber waren allein Handschellen eine völlig neue Erfahrung und ich wusste sofort, dass ich nicht drauf stand. Waren das die Momente, auf die es ankam? Die Dresche, bei der sich die Spreu vom mutigen Weizen trennt, selbst wenn es nichts einbrachte außer Schmerzen? Busch sah mich jedenfalls so an und schnaubte verächtlich, als ich weiter standhaft schwieg. Dann verlegte er sich wieder darauf, die Polizisten zu ärgern.
    So ein Idiot! Und so eine idiotische Frage: Wer weiß, wie ich mich verhalten hätte? Ich weigerte mich, darüber auch nur einen Augenblick ernsthaft nachzudenken, erst recht in Bauchlage auf irgendeiner Brandenburger Landstraße - und konnte doch nicht anders. Wie ein blöder Ohrwurm ließ mich die Frage nicht mehr los.
    Natürlich hätte ich die faschistische Diktatur mit heißem Herzen bekämpft, hätte mich schützend vor meine jüdischen Klassenkameraden gestellt und nie im Leben ein blödes HJ-Hemd angezogen. Was dachte Busch denn? Schließlich weiß ich, wie es damals dazu kam, wie es aus ging. Ahnungslose Besserwisser sind wir alle, aber wer nicht mal im Nachhinein ausschließen kann, vielleicht auch Mitläufer oder Täter gewesen zu sein, der kann auch gleich davon ausgehen. Der wird im Zweifel immer wieder mitmachen. Und genau so kam mir euer Antifaschismus manchmal vor, ob er nun polterte wie bei Busch oder in jedem Krakel ein Zeichen erkannte wie deiner: Lautes Singen im Wald war das, eine Art Eigenurintherapie, weil ihr euch selbst nicht sicher wart - euer selbst!
    Beinahe musste ich Gerd für diese Lektion noch dankbar sein, dir und den Polizisten natürlich auch, deren Auftrag an diesem Tag auch nur die Bewältigung der Vergangenheit war. Wie sich das gehörte, fassten sie die nicht mit Samthandschuhen an. Aber während mein Kinn Altöl vom Asphalt radierte, sah ich die Dinge, über die ich mir vorher allerdings auch noch nie Gedanken gemacht habe, plötzlich ganz klar: Ihr könnt euch einfach nicht entscheiden! Das ist es, was oft so nervt. Einerseits legt ihr stets Wert darauf, wie einzigartig und unvergleichlich die Verbrechen damals waren, aber entwertet sie gleichzeitig mit eurer Scheißangst, es könnte jederzeit wieder passieren. Das ist Verharmlosung, Evelyn, das relativiert alles. Denn entweder war es einzigartig oder es kann jederzeit wieder passieren. Beides geht nicht. Und wenn du mich fragst: Dann lieber einzigartig. Was wir darüber wissen, ist grausam genug. Keine Zeit ist besser

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