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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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rollte eine Polizeikolonne. Es waren mindestens 20 VW-Busse, entweder auch auf dem Heimweg oder nur dazu da, uns ein schlechtes Gewissen zu machen. Immerhin animierten sie Busch, endlich mal zu beschleunigen.
    »Ich wette, das mit dem Kaviar glaubt uns kein Schwein«, sagte Busch plötzlich, »selbst wenn wir alles auf Band haben.«
    Ich sah irritiert von meiner Zeitschrift auf. Seine Augen flatterten belustigt zwischen Fahrbahn und mir hin und her.
    »Also wirklich«, sagte er dann, »ich versteh das nicht: Da habt ihr mal ein echtes Ding am Haken und dann gebt ihr so schnell auf? Eben noch überzeugt davon und auf einmal - puff - alles nicht mehr wahr, nur weil es offiziell abgestritten wird.«
    Er genoss meine Verwirrung ausgiebig und grinste nur.
    »Ich sag’s ja: kein Biss. Immer nur die einfachen Geschichten. Etwas Gegenwind, und schon werft ihr hin. Typisch!«
    »Aber Gerd, du hast doch vorhin selbst...«
    »Ich? Ich bin nur Kameramann. Augenzeuge und Chronist. Dafür weiß ich aber umso besser, was ich gesehen habe.«
    »Heißt das, wir machen weiter?«
    »Keine Ahnung, was du machst, Benny. Ich lasse mich jedenfalls nicht einfach so abservieren wie dieses Küken.«
    Erleichtert schlug ich ein, als er mir seine Pranke herüberreichte. Das war wenigstens wieder Busch, wie ich ihn kannte. Dem ich Unrecht getan hatte. Der lediglich Jenny nach Hause geschickt und mich gerade zum ersten Mal in fast drei Jahren beim Vornamen genannt hatte. Fast schämte ich mich, dass ich auch schon wieder an meine Plattenteller gedacht hatte. Das Schicksal von Fritz wäre mir sicher noch ein paar Tage nachgegangen, aber nüchtern betrachtet - so hatte ich mich eben noch getröstet - war er vielleicht doch kein so harmloser Opa, wie ich gedacht hatte. Und nun wollte sogar Gerd auf einmal etwas aus seinen Tagebüchern vorgelesen bekommen, während er der Polizeikolonne hinterher zuckelte.
    23. September 1982 Liebe Liesbeth! Heute morgen mußte ich mich erstmals zwingen zu beten. Ausgerechnet an meinem Geburtstag! Ich trage eine frische Kragenbinde, bin mit Konrad zu einer Partie Schach verabredet und weiß dennoch nicht, ob ich nun auch verrückt werde. Es wäre keine Schande mit 53. Andere haben längst nicht so lange durchgehalten. Aber diesmal ist es wirklich mehr als der übliche Bunkerkoller, der mindestens einmal im Monat über jeden von uns kommt.
    Körperlich dagegen bin ich wieder flott: Keine Mangelerscheinungen mehr, keine Symptome dieser rätselhaften Seuche, die allein in den letzten zwei Jahren fünf Kameraden hinweggerafft hat. Es sieht aus, als hätten wir es ausgestanden, die Krankheit zumindest, nur weiß ich nicht, was besser ist.
    Wie in dieser Höhle von Platon komme ich mir in diesen Tagen und Wochen vor, gefangen in einer Welt aus Schatten, lebendig begraben. Erinnerst Du Dich an das Gleichnis aus der Schule? Wie sich die alten Philosophen fragen, was passieren würde, wenn einer plötzlich Tageslicht sieht und erkennt, dass die Schatten doch nicht das wahre Leben sind? Geblendet, aber gleichzeitig erleuchtet kehrt er zu seinen Kameraden in die Höhle zurück, die ihn auslachen und aus einer diffusen Angst vor allem Unbekannten mit dem Tod bedrohen. Was, wenn auch wir eines Tages den Kopf aus der Höhle strecken und erkennen müssten, daß alles ... Verdammt noch mal. Wenn ich es nicht schaffe, diese Zweifel zu bekämpfen, werde ich mich eines Tages selbst für immer degradieren.
    Anders als die anderen bringe ich es auch noch immer nicht fertig, mich auch mal tagsüber ins Bett zu legen. Nicht, daß ich etwas verpassen würde, aber ich habe einfach Angst, nicht mehr aufzustehen und denke auch an die Heeresdienstvorschrift, die das verbietet. Vor drei Tagen habe ich begonnen, in der dienstfreien Zeit durch den äußeren Gang zu laufen, immer im Quadrat. Das hilft ein paar Stunden - ist aber auch keine Lösung auf Dauer. Wenn ich allein bin, weine ich oft.
    Du merkst ja selbst, wie der Abstand zwischen den Einträgen wächst - nein: Du merkst es eben nicht. Das ist es ja gerade! Geduld! Durchhalten! Parolen! Manchmal kann ich mich selbst nicht mehr hören. Aber wer soll mir sonst Mut machen? Manche Gedanken lassen sich nicht einfach weglaufen, Gedanken an Dich zum Beispiel und die Sorge, ob Du noch an mich glaubst. Sie sind immer da und hämmern gleichmäßig in meinem Schädel wie die Schiffsdiesel, die Josef ab und zu für fünf Minuten anwirft, um die Notstromversorgung zu überprüfen. Es ist ein gutes

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