Die Nacht am See
tun, dass er Menschen helfen wollte. Dieser Lebensstil bedeutete ihm mehr, als jeder Mensch es tun könnte.”
„Verstehe. Sie denken, weil ich ein erfolgreicher Arzt bin und allein lebe, und weil Frauen Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, sind mir die Menschen auch egal?”
Sie zuckte mit den Schultern.
„Sie wissen wirklich nicht viel über mich, Jocelyn. Das ist Ihnen doch klar, oder?”
Sie nickte, und das freute ihn. Vielleicht würde er ihr irgendwann die ganze Geschichte erzählen.
„Ich habe doch schon gesagt, dass es mir Leid tut”, meinte sie. „Es ist schwer, sich von seinen Vorurteilen freizumachen.”
Donovan schaute ihr ins Gesicht, während sie in ihrem Essen stocherte.
„Hören Sie”, sagte er. „Ich hatte nicht vor, Sie vorzuführen, damit Sie sich schlecht fühlen.”
„Das tue ich auch nicht.”
Neckend erwiderte er: „Doch, das tun Sie.”
Glücklicherweise erwiderte sie sein Lächeln. Aber sie nahm ihren Glückskeks und warf ihn über die Kücheninsel, so dass er direkt seinen Oberkörper traf. „Tue ich nicht.”
Donovan lachte. „Okay, okay.” Er schaute auf den Keks in seiner Hand. „Ist das Ihrer oder meiner? Ich will mich nicht mit dem Schicksal anlegen und die falsche Zukunft vorausgesagt bekommen.”
Sie nahm den anderen Keks. „Es ist Ihrer. Ich will diesen hier.”
Gleichzeitig öffneten sie die Folie. „Was steht auf Ihrem?” wollte er wissen.
„Hier steht: ‘Sie haben ein tiefgründiges, komplexes Wesen.’ Und bei Ihnen?”
„Hm. Mal sehen.” Er faltete das kleine Stück Papier auseinander. „‘Sie werden heute Abend noch Glück haben.’ Was denken Sie, soll das bedeuten?”
Jocelyn wurde rot. „Das will ich sehen!” Sie riss ihm den Zettel aus der Hand. „Das steht da gar nicht, Sie Betrüger! ‘Sie bringen gern Sachen in Ordnung’, lautet der Spruch.” Sie gab ihm den Zettel wieder und stand dann auf, um die Teller abzuräumen. „Netter Versuch.”
Leider nicht nett genug, dachte Donovan und blickte ein wenig enttäuscht.
5. KAPITEL
Er war ein brillanter Herzchirurg, erfuhr Jocelyn von so gut wie jedem, mit dem sie über Donovan im Krankenhaus sprach. Der Beste, den man hier finden konnte. Und nett war er obendrein, sagten sogar die Schwestern, von denen nicht einmal Andeutungen kamen, dass er Annäherungsversuche unternommen hatte. Angesichts der Tatsache, wie häufig er es in den letzten Tagen bei ihr versucht hatte, war Jocelyn darüber erstaunt.
Der Gedanke sandte einen prickelnden Schauer über ihren Rücken, als sie in Donovans Wartezimmer saß, in einer Zeitschrift blätterte und daran dachte, wie oft er sie mit diesem verführerischen Blick bedacht hatte.
Es war, als hielte er sie für eine aufregende Frau.
Noch ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie konnte nicht leugnen, dass sie seine Blicke genoss. Es war schmeichelhaft, vor allem, da sie sich nie als aufregend empfunden hatte. Sie trug schlichte Hosenanzüge und flache Schuhe sowie vernünftige Baumwollunterwäsche. Sie hatte eine konservative, schulterlange Frisur, und sie war ganz entschieden niemand, der flirtete. Genau genommen bemühte sie sich sehr darum, keinerlei Signale auszusenden - jedenfalls keine, die Männer auf sie aufmerksam machen könnten. Also war sie langweilig.
Zu ihrer Verteidigung konnte sie vorbringen, dass das an ihrem Job lag. Sie begleitete ihre Klienten nicht, um an deren gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Sie wollte möglichst unsichtbar sein, war höflich und sprach nur, wenn sie angesprochen wurde. Außerdem musste sie ständig auf der Hut sein und erst einmal jedem misstrauen, was einer positiven Ausstrahlung nicht unbedingt dienlich war.
Deshalb war sie langweilig.
Jocelyn senkte die Zeitschrift und fühlte sich auf einmal unzufrieden. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich anscheinend bewusst bemüht, langweilig zu sein.
Warum? Lag es daran, weil sie in der Kindheit immer dazu gedrängt worden war, einen guten Eindruck bei den Nachbarn zu machen? Weil sie mit Spitzenkleidchen und glänzenden Löckchen ausstaffiert worden war und ihre Eltern ihr nur Anerkennung gezollt hatten, wenn ihre Erscheinung perfekt oder bemerkenswert gewesen war? War es eine Art von Rebellion gegen diese Art oberflächlichen Denkens?
Sie blätterte weiter in der Modezeitschrift und besah sich die dürren, glamourösen Modells mit den tollen Frisuren und den kleinen Brüsten. Nein, mit denen wollte sie sich wirklich nicht
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