Die Nacht am See
weiß nicht. Was für eine Schülerin du in der High School warst. Warst du beliebt - du weißt schon, Klassensprecherin, die Ballkönigin - oder hingst du mit den Außenseitern herum?”
Jocelyn setzte sich auf den Stuhl. „Weder noch. Ich bin einfach zur Schule gegangen, habe durchschnittliche Noten bekommen und hatte ein paar Freunde, mit denen ich zusammen war.”
„Ein Kind, das ignoriert wurde, weil es normal war”, bemerkte er scharfsinnig. „Hattest du einen Freund? Oder war der Medizinstudent, der die soziale Leiter erklimmen wollte, deine einzige und wahre Liebe?”
„Nein, auf der High School hatte ich keinen Freund. Es gab ein paar Jungs, mit denen ich lose befreundet war, aber zum Abschlussball bin ich nicht gegangen. Keiner aus meinem Bekanntenkreis tat es. Es war nicht angesagt. Ich war eine Art Einzelgängerin. Bin ich auch immer noch.”
„Aber warum? Du bist bezaubernd und witzig. Du hättest schon längst verheiratet sein können.”
Jocelyn beugte sich vor. „Es ist ganz einfach. Ich habe mich daran gewöhnt, allein zu leben, und konzentriere mich gern auf meine Arbeit. Dann brauche ich mir auch keine Sorgen zu machen, dass ich jemanden enttäusche, wenn ich wegen eines Jobs wochenlang nicht nach Hause komme. Und überhaupt, du bist doch auch nicht besser, was feste Beziehungen angeht.”
Er trank einen Schluck Milch. „Ein Punkt für dich, aber ich habe ein paar gute Entschuldigungen. Erst das Studium, das schrecklich arbeitsintensiv war, dann die Jahre als Assistenzarzt, als ich ständig unter Schlafmangel gelitten habe und ewig gestresst war. Ich hatte keine Zeit für eine Beziehung.”
„Und jetzt? Du bist seit ein paar Jahren in Chicago, und es scheint, als würdest du am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Du gehst ins Theater, Frauen rufen dich an.”
Nach einem weiteren Schluck meinte er: „Ja, aber ich habe noch keine von ihnen richtig kennen gelernt.”
„Wessen Fehler war das?”
Er zwinkerte ihr zu. „Es kann nicht meiner gewesen sein. Du weißt doch, ich bin perfekt.”
Jocelyn lächelte.
„Nein, ernsthaft”, fuhr er fort, „ich weiß, dass ich nicht gerade wie ein Familienmensch wirke, vielleicht bin ich es auch nicht. Ich war zu lange auf mich gestellt.”
„Du musst doch Familie haben. Brüder? Schwestern?”
Er schüttelt den Kopf. „Ich bin Einzelkind. Nicht, dass meine Eltern es so wollten. Sie starben, als ich zwei war.”
„Das tut mir Leid, Donovan”, meinte Jocelyn mitfühlend. „Das wusste ich nicht. Ich meine, ich wusste, dass sie nicht mehr leben, aber ich wusste nicht, wie früh du sie verloren hast. Was ist passiert?”
Er starrte in seinen Becher, während er sprach: „Ein Autounfall. Ich saß auf dem Rücksitz, als wir bei Glatteis ins Schleudern gerieten und über eine Klippe stürzten, die zum Glück nicht allzu hoch war. Irgendwie habe ich überlebt, und jemand hörte mich am nächsten Morgen schreien. Eine Frau fand mich neben dem Wagen. Ich saß auf der Erde und litt an Unterkühlung. Meine Eltern sind sofort tot gewesen. Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe.”
„Du meine Güte, erinnerst du dich daran?”
„Nein. Ich kann mich kaum an meine Eltern erinnern, obwohl meine Großmutter mich großgezogen und immer von ihnen gesprochen hat. Sie war gut zu mir. Als ich siebzehn war, starb sie, und ich bekam mein Erbe, das - abgesehen von einer monatlichen Zahlung für anfallende Kosten - bis dahin treuhänderisch verwaltet worden war. Dieses Penthouse war ein Teil davon. Meine Eltern hatten es nach ihrer Hochzeit gekauft. Als kleines Kind habe ich hier gelebt. Dann wurde die Wohnung mit dem Rest des Erbes für mich verwaltet. Du siehst also, dass ich nicht immer Geld gehabt habe, und ich habe auch nicht darum gebeten. Ich würde es auf der Stelle weggeben, wenn ich dafür meine Eltern zurückbekäme.”
Jocelyn wurde vor Mitleid das Herz schwer. Wie sehr hatte sie sich doch anfangs in ihm getäuscht. „Hat das deine Entscheidung, Arzt zu werden, beeinflusst?”
„Ich wusste immer, was ich werden wollte. Und zwar, anders als dein Ex, nicht um ein exklusives Penthouse oder ein teures Auto zu besitzen. Ich denke, es hatte etwas damit zu tun, dass ich das Gefühl haben wollte, Menschenleben retten zu können, denn ich fühlte mich so schrecklich hilflos nach dem Tod meiner Eltern. Ich wusste nicht, warum ich so viel Glück gehabt und überlebt hatte. Ich wollte anderen Menschen etwas zurückgeben, wollte meinem
Weitere Kostenlose Bücher