Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
doch herein und zeigt sie uns«, sagt Mr. Edwards.
»Sie ist eingepackt«, sagt Art.
»Von Portsmouth kann man mit der Fähre zu den Isles of Shoals hinausfahren«,
bemerkt Ben.
»Das könnten wir doch morgen mal machen?«, meint Wendy, an ihren Mann
gerichtet.
»Und was treibst du so, Jeff?«, erkundigt sich Art, während er sich mit
einem halben Meter Küchenkrepp den Mund abwischt.
Jeff schreckt auf und zieht eine helle Augenbraue hoch. »Ich unterrichte«,
antwortet er liebenswürdig. »Im Herbst. Im Moment arbeite ich in der Forschung.«
»Zum Beispiel? Was für Kurse?«
»Das postkoloniale Ostafrika«, antwortet Jeff. »Genozid im zwanzigsten
Jahrhundert.«
»Nichts über den Nahen Osten? Den Krieg gegen den Terror?«
Art ist am Scheitel kahl, sonst aber üppig behaart, wie man an den krausen
Haarbüscheln im offenen Ausschnitt seines eleganten Hemdes sieht. Sydney sucht nach
einer Verbindung zwischen dem Mann und Mr. Edwards und findet keine. Wirklich befreundet
sind wahrscheinlich Mrs. Edwards und Wendy, die beide fast hysterisch scheinen
bei der Aussicht auf einen Besuch des Emporia, eines Flohmarkts in der Nähe, am
kommenden Morgen.
»Da habe ich mein ganzes geätztes Glas her«, sagt Mrs. Edwards und hebt
ihr langstieliges Weinglas. »Ich zahle nie mehr als zwei Dollar für das Stück.«
Sydney hebt das ihre und bewundert die feine Arbeit. Sie fragt sich,
wie alt die Gläser sind und wem sie einmal gehört haben.
»Er treibt uns noch alle in den Ruin«, erklärt Mr. Edwards heftig. Aus
früheren Gesprächen weiß Sydney, dass er vom Präsidenten der Vereinigten Staaten
spricht.
Kurz nach ihrer Ankunft hat sie erfahren, dass Mr. Edwards politisch
umgeschwenkt ist. Der Gesinnungswandel vollzog sich während der angefochtenen Präsidentschaftswahl.
Mrs. Edwards scheint ihre politische Meinung im Vorfeld der Besuche ihrer Söhne
zu erfinden und zu präparieren.
»Er hat uns ein Jahrhundert zurückgeworfen«, fügt Mr. Edwards mit erstaunlicher
Vehemenz hinzu. »Ach was, zwei Jahrhunderte.«
Das wäre dann, rechnet Sydney aus, 1802. Sie ist in Geschichte keine Leuchte.
War das Land damals schlecht dran?
»Hältst du es für möglich, dass er wiedergewählt wird?«, fragt Art.
Mit seiner Hummergabel, die auf den Behälter gerichtet ist, in dem der
bereits gekochte Hummer vom Hummerrestaurant geliefert wurde, sticht er durch die
Luft. »Ich würde die (Stich) Pappschachtel da (Stich) wählen, wenn ich glaubte,
dadurch würden wir den Kerl loswerden«, sagt er.
Offener Ärger ist bei Mr. Edwards eine Seltenheit. Schweigend zollt
man Respekt. Mrs. Edwards scheint dieses Schweigen zu verdrießen, sie lässt ihre
Hummerzange in den tiefen Hummerteller aus Zinn fallen, was ziemlichen Krach macht.
»Brot?«, fragt Sydney und ergreift einen Korb.
Mrs. Edwards starrt sie an. Mrs. Edwards isst kein Brot.
In der Ferne ist gedämpfter, aber deutlicher Donner zu hören.
»Ein Feuerwerk«, sagt Julie.
»Heute Abend kommt noch ein Riesengewitter«, teilt Art der kleinen Gesellschaft
mit.
»Gut«, sagt Mrs. Edwards. »Das reinigt die Luft.«
Als röche sie, denkt Sydney.
(Für Sydney plötzlich der typische Geruch von Troy. Sydney ist acht
oder neun. Geruch nach Zwiebeln von oben, wo ihre Großmutter wohnt; nach den Dieselabgasen
der Lieferwagen. Nach dem Zigarettenqualm, der in den alten Polstermöbeln sitzt.
Ihr Vater raucht Marlboro, ihre Mutter Virginia Slim. Manchmal findet Sydney, wenn
sie von der Schule heimkommt, brennende Zigaretten in Aschenbechern im Bad, neben
der Spüle in der Küche und im Schlafzimmer ihrer Eltern, wo ihre Mutter an der Nähmaschine
sitzt und Täschchen aus Seide und Baumwolle fertigt – in viel zu grellen Farben,
wie man sie in der Natur nie sieht. Knalliges Rosa und glänzendes Türkis, Lackgelb,
Neonorange. Noch während ihre Mutter sie mit einem Hallo begrüßt, greift sie zu ihren Zigaretten und spitzt die Oberlippe, wobei sich Runzeln
bilden, die bald nicht mehr weggehen werden. »Was sagst du?«, fragt sie. Der Entwurf,
den sie hochhält, zeigt ein violettes Kabriolett, in dem Frauen mit wehenden königsblauen
Schals ihre roten Arme heben. Es soll ein Bild von Freiheit sein, vermutet Sydney.
Draußen, vor den Fenstern zur Straße, Farben genug. Auch von ihnen keine
natürlich. Das fleischige Rosa des Reklameschilds für Schweinefleisch aus Troy.
Magentafarbene Vorhänge an einer Messingstange in einer Wohnung gegenüber. Vergilbte
Sonnenjalousien in der Praxis
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