Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
gezimmert
hat. Der abgeschrägte Rand ist unregelmäßig, als wäre er mit der Oberfräse hin und
wieder abgerutscht. Sydney setzt sich ganz bewusst neben Julie; vorher, als sie
nur zu viert oder zu fünft beim Essen saßen, war das nicht nötig. Aber jetzt, umgeben
von den Brüdern und den Gästen, die triumphierend aus Portsmouth zurückgekehrt sind – ganz zu schweigen von all dem Brimborium, das ein Hummeressen begleitet, große
Servietten zum Umbinden und so weiter –, scheint Julie, während die Gäste sich ihren
Plätzen nähern, etwas verloren und unsicher.
»Ich habe Mathe gemacht«, sagt sie.
Vergiss Mathe , hätte Sydney am liebsten gesagt.
»Gut«, sagt sie stattdessen in dem Ton, den sie für ihren Ton der ermutigenden Lehrerin
hält. »Sehr gut, Julie.«
»Ich brauche heute Abend keine Hausaufgaben mehr zu machen«, sagt das
junge Mädchen und hält inne. »Das heißt, ich könnte –«
»Nein«, unterbricht Sydney. »Heute Abend nicht. Heute ist ein besonderer
Abend.«
»Ach ja?«
»Deine Brüder sind da.«
Julie blickt lächelnd zuerst zu Ben, dann zu Jeff. Sie strahlt, aber
ganz ohne Besitzerstolz.
Bei ihrer Ankunft im Haus hat Sydney schon geahnt, dass man (bei dem
vielen Geld) von ihr vielleicht erwarten würde, dass sie Julie mehr Zeit widmet,
als für den Nachhilfeunterricht unbedingt nötig ist. Sydney macht das nichts aus.
Sie und Julie unternehmen Strandspaziergänge, bei denen das junge Mädchen vom Meer
geschliffenes Glas und Sanddollars sammelt. Sie hat ein bemerkenswert scharfes Auge,
ein schärferes als Sydney, die häufig den Fund erst bemerkt, wenn Julie sich bereits
bückt, um ihn aufzuheben. Früher am Tag hat Julie ein dickes amethystfarbenes Glasstück
gefunden, auf dem Sydney ganz schwach zwei Kreise erkennen konnte und am obersten
Punkt des inneren Kreises sogar das Zeichen eines Glasbläsers.
Die Gäste, Wendy und Art, sind für Hummer zu fein angezogen, und schon
jetzt bemerkt Sydney kleine Fitzelchen des weißen Fleisches an der Manschette von
Arts roséfarbenem Oxfordhemd.
Ben macht sich mit Genuss über seinen Hummer her. Jeff bricht die weiche
Schale der Scheren mit den Fingern auf und isst das süßliche Fleisch ohne Butter.
Mrs. Edwards tränkt selbst die kleinsten Bissen mit der gelben Sauce. Butter hat
keine Kohlehydrate.
Weder Wendy noch Art richten während des Essens das Wort an Sydney, da
sie bei ihrer Ankunft am Tag zuvor festgestellt haben, dass sie für Julie da ist,
also einer besseren Hausangestellten zu Beginn des letzten Jahrhunderts vergleichbar.
Um Wendys Schultern liegt lässig ein schokoladenbrauner Armani-Sweater, dessen geknotete
Ärmel gefährlich im Weg sind. Sydney weiß, dass der Pulli von Armani ist, weil der
Name auf dem Schildchen steht, das, nach oben gekehrt, in ihrem Nacken sichtbar
ist.
Jenseits der offenen Tür hämmert die Brandung auf den Strand, merkwürdig
stürmisch für einen derart heißen Abend. Im Speisezimmer ist die Luft stickig trotz
der geöffneten Fenster. Sydney wäre jetzt gern draußen am Strand. Sie wäre gern
im Wasser, beim Schwimmen.
Drei- oder viermal in ihrem Leben vielleicht hat Sydney ein Hummeressen
so richtig genossen; ist es für sie mehr ein Fest gewesen als eine bloße Mahlzeit.
An diesem Abend jedoch isst sie mechanisch, bricht die Scheren auf, holt das Fleisch
mit der Hummergabel heraus. Die Hitze hat ihr den Appetit genommen.
Sydney fällt beim Essen immer wieder auf, dass Ben stets präsent ist,
während Jeff woanders zu sein scheint. Ben ist offensichtlich ein Gourmand; Jeff
scheint sein Essen gleichgültig zu sein. Ben hört mit vollendeten Manieren den Gästen
zu, während diese sich endlos über eine aus einer antiken Autohupe gefertigte Lampe
auslassen, die sie in Portsmouth spottbillig bekommen haben. Jeff neigt sich seinem
Vater zu einem Gespräch unter vier Augen zu. Sydney kann die Wörter Fensterläden und kann dir dabei helfen verstehen.
»Portsmouth ist ja hinreißend«, sagt Wendy. »Die vielen kleinen Cafés
und Boutiquen.«
»Aber voll«, wirft Art ein.
»Die Stadt hat sich in den Achtzigerjahren völlig gewandelt«, erklärt
Mr. Edwards. »Früher ging es da mit der Werft ziemlich rau zu.«
»Wir haben am Wasser gegessen«, berichtet Wendy. »Art hat die Muschelsuppe
genommen und ich die gegrillten Calamares.«
»Nirgends ein Parkplatz zu finden«, bemerkt Art.
»Dann sind wir die Hauptstraße hinuntergegangen, und da habe ich die
Lampe im Fenster gesehen.«
»Holt sie
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