Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
vertuschen. Mr. Edwards kneift die Augen zu, ein Kind, das sich etwas
wünscht. Alle klatschen, als er die Kerzen in einem Zug ausbläst. Der Qualm von
achtundsechzig Dochten zieht über den Tisch. Sydney würde gern wissen, was Mr. Edwards
sich gewünscht hat. Gesundheit für seine ganze Familie? Einen sicheren Hafen für
Julie? Ein Ehejahr gegenseitigen Verständnisses und ohne Spannungen?
Der Nachtisch ist unerwartet köstlich, saftig und hat dank der Ganache
einen Geschmack von edler dunkler Schokolade. Sydney macht Mrs. Edwards ein Kompliment
und schlingt ihr Stück gierig hinunter. Als ein Nachschlag angeboten wird, hält
Sydney ihren Teller hin. Jeff ihr gegenüber am Tisch lacht.
»Eine Frau mit gesundem Appetit«, sagt er voller Bewunderung.
Nachdem Sydney zusammen mit Mr. Edwards und Ben (Ben, der sonst
nie freiwillig beim Abwasch hilft) das Geschirr gespült hat, nimmt sie ihre marineblaue
Regenjacke vom Haken. Sie steckt eine Taschenlampe ein.
Sie geht schnell den Strand hinunter. Der nasse Rock klebt ihr an den
Beinen, aber die Kapuze der Jacke, die ihr zu groß ist, schützt wenigstens ihr Gesicht
vor dem Regen. Die Cottages treiben ihre gewohnten Spielchen und haben sich vom
Ufer entfernt, wie sie das jeden Abend zu tun scheinen.
Wasser auf der einen Seite, die Kaimauer auf der anderen. Sie sagt sich,
dass sie sich da nicht verlaufen kann.
Am Horizont ist ein Licht. Ein Fischerboot? Ein Kreuzfahrtschiff? War
das Donner, was sie eben gehört hat? Sydney hat immer schon Angst vor Blitzen, ohne
dass es einen besonderen Grund dafür gibt, außer dass ihre Mutter diese Angst hatte.
(Sie erinnert sich, wie sie während eines Gewitters mit ihrer Mutter mitten im Flur
der Wohnung saß, weil ihre Mutter nicht allein sein wollte. Der
sicherste Ort im ganzen Haus , sagte ihre Mutter immer und rauchte zwei oder
drei Zigaretten, bevor sie Sydney erlaubte zu gehen. Ihr Vater saß derweilen draußen
auf der Vortreppe und sah sich das Schauspiel an.)
Jeff überfällt sie aus dem Nichts. Als sie mit einem Aufschrei herumfährt,
schiebt er seine Hände in ihre Kapuze. Sein Haar ist klatschnass. Er ist gerannt.
»Das könnte ein Fehler sein«, sagt sie.
Er küsst sie mit regennassen Lippen.
Sie sagt mühsam seinen Namen.
Er sucht den Anfang ihres Reißverschlusses unter ihrem Kinn und zieht
ihn abwärts. Seine Hände sind kalt, und sie fröstelt.
Jeff ist entschlossen. Empfindungen, die Sydney seit mehr als zwei Jahren
nicht mehr kennt, überraschen und erstaunen sie. Erinnerung und Verlangen werden
wach, das eine neben dem anderen, und es ist, als steigerte eine Art Trauer um Daniel
sich zum Crescendo, während ihr Körper auf Jeff reagiert. Dann spürt sie Jeff in
sich, und die Lust siegt über die Vergangenheit. Es bringt eine gewisse Erleichterung:
das Bewusstsein, dass sie Daniel hinter sich lässt; dass Jeff zum Einzigen wird;
zum Ein und Alles.
Sie finden Zuflucht in einem verlassenen Gartenpavillon und legen sich
direkt in der Mitte auf den Boden, um dem peitschenden Regen zu entgehen. Minuten
verstreichen. Stunden. Hin und wieder kommt Sydney der Ozean in den Sinn, ganz in
ihrer Nähe.
»Wie spät ist es?«, fragt sie.
Jeff schaut auf seine Uhr, kann aber das Zifferblatt nicht erkennen.
Sydney sucht nach der Taschenlampe und knipst sie an, damit er besser sehen kann.
»Viertel vor fünf«, sagt er.
»Da ist bestimmt noch niemand auf. Ich könnte dir Eier machen.«
Sydney sieht sich und Jeff in der Küche, Jeff auf einem Stuhl am Tisch,
sie selbst mit Wender und Bratpfanne. Nur ein kleines Licht brennt, und alles ist
voller Schatten. Bei besserem Wetter, wenn das je kommt, werden sie auf die Veranda
hinausgehen. Sie werden Spaziergänge machen und dem Sonnenaufgang zusehen. Nachmittags,
wenn alle anderen weg sind, werden sie in ihrem Bett ein Schläfchen machen.
Ein heißes Bad, denkt sie, wäre göttlich.
Wegen der Kälte sind sie fast ganz angekleidet geblieben. Ihre schwarze
Seidenbluse ist über ihrer Brust hochgerutscht. Mit der freien Hand zieht Jeff sie
herunter.
»Der Tod deines Mannes muss ein grausamer Schlag für dich gewesen sein«,
sagt er in liebevollem Ton.
»Ja.«
Er streicht ihr das Haar aus dem Gesicht. »Es tut mir so leid.«
»Es ist jetzt schon besser.«
»Die Zeit?«
»Ja«, antwortet Sydney.
»Wie war er?«, fragt Jeff.
Die Frage kommt überraschend für sie. »Er war klug und geistreich. Und
geduldig. Ich bin überzeugt, er wäre ein guter Lehrer geworden. Am
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