Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
voraus.
Er streicht ihr ein paar Haare aus der Stirn. »Ben wird stinksauer sein«,
sagt er und neigt sich zu ihr, um sie zu küssen.
Der Kuss überrascht Sydney, und Jeffs Lippen treffen ihren Mundwinkel.
Als er sich wieder aufrichtet, kann sie ihn nicht ansehen.
Die Wolkendecke reißt plötzlich auf, und der Tag wird heller. Es hat
zu regnen aufgehört, ohne dass Sydney es bemerkt hat. Man fühlt sich nicht mehr
so intim auf der Veranda, auf einmal wie von einer Invasion bedroht.
»Wie geht es Julie?«, fragt Jeff.
»Julie.«
Sydney hat sich noch nicht ganz von der Überraschung des Kusses erholt.
»Julie geht’s prima.«
»Wirklich?«
Sydney ist verwirrt. Hat Jeff nicht eben gesagt, er habe mit Victoria
Schluss gemacht, um mit ihr zusammen sein zu können?
»Sie malt«, sagt sie.
»Malen wie Gemälde?«
»Genau.«
»Wie ist das denn gekommen?« Jeff wirkt bemerkenswert ruhig. Sollte er
nicht auch ein bisschen außer Fassung sein?
»Ich mache Kunst statt Mathe mit ihr.« Mit einem tiefen Einatmen lässt
Sydney sich in den Liegestuhl zurücksinken. Sie verschränkt die Hände. »Sie kann
sich ungewöhnlich gut auf eine einzige Sache konzentrieren.«
»Das hat sie wahrscheinlich von meinem Vater«, meint Jeff nickend.
»Ich habe von Kunst keine Ahnung«, sagt Sydney. »Ich sollte ihr eigentlich
Nachhilfe in Englisch und Mathematik geben.«
»Macht doch nichts«, meint Jeff.
»Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen.«
Jetzt ist Jeff doch einen Moment fassungslos. »Über den Sonntagabend?«
»Ich fand, er müsste es wissen. Ich habe allein mit ihm gesprochen. Ihre
Mutter war nicht dabei. Er war traurig.«
Jeff pfeift leise. »Das denke ich mir.«
»Ich glaube, er hat mit Julie gesprochen. Ich habe ihn am nächsten Abend
aus ihrem Zimmer kommen sehen. Er sah niedergeschlagen aus.«
»Julie hat nichts gesagt?«
»Zu mir nicht.«
Jeff blickt in die Ferne, als versuchte er, sich die Szene mit Julie
und seinem Vater vorzustellen.
»Hat jemand Geburtstag?«, fragt Sydney.
»Mein Vater.«
Sydney lässt die Hände schlaff in den Schoß fallen. »Wann?«
»Morgen. Aber wir feiern heute Abend.«
»Mir hätte ruhig jemand Bescheid sagen können«, meint Sydney.
Jeff neigt den Kopf leicht zur Seite. »Keiner erwartet, dass Sie ihm
etwas schenken.«
»Aber ich möchte ihm gern etwas schenken. Ich mag ihn sehr.«
Jeff lächelt. »Das weiß ich.«
Er stemmt die Hände auf die Knie. »Ich glaube, ich hole die Kajaks raus«,
sagt er. »Haben Sie Lust mitzukommen?«
Sie versucht zu antworten, kann aber nicht.
»Ich habe Sie erschreckt«, sagt er.
»Ich bin…«
Er wartet. »Sie sind…?«
Sie mustert Jeff, einen Mann, den sie kaum kennt. Er beugt sich vor und
küsst sie noch einmal, und diesmal trifft er sein Ziel perfekt. Sydney spürt, wie
sie immer leichter wird, so leicht, dass es scheint, sie könnte jeden Moment abheben.
Sydney bleibt im Liegestuhl und blickt zum Meer hinaus. Jeff, erst
in der Schwimmweste und dann im Kajak, kreuzt ihr Blickfeld. Sie lässt ihren Blick
nicht folgen. Sie haben Zeit, denkt sie, Zeit in Fülle.
Sie ruft seine Berührung zurück. Den ersten Kuss. Und dann den zweiten.
Eine schwache Empfindung – ein zartes Flattern im Unterleib –, vertraut und nicht
ganz vergessen, sie muss lächeln.
Gelegentliche Löcher in der Wolkendecke, blaue Seide, sind kein Versprechen
auf ein schönes Wochenende. Die Meteorologen haben gesprochen. Bis Montag wird es
weiterregnen.
Sydney denkt darüber nach, ob Julie das mit Victoria schon weiß. Sie
glaubt nicht, dass das junge Mädchen traurig sein wird. Mr. Edwards, vermutet Sydney,
wird sich in seinen Garten zurückgezogen haben, nicht weil er Jeffs Trennung von
Victoria so schwernimmt, sondern weil seine Frau es tut. Wenn er im Haus bliebe,
würde er die Hauptlast ihrer Bestürzung tragen müssen.
Ein Sonnenstrahl fällt schräg über das Wasser. In dem Streifen Licht
kann Sydney kleine Teilchen, Körnchen ausmachen, den Staub der Atmosphäre. Einen
flüchtigen Moment lang sprüht das Meer vor Farbe. Eine hoch oben segelnde Möwe nimmt
eine korallenrote Färbung an. Sydney richtet sich kerzengerade auf – jeder würde
das tun –, staunend über dieses Spiel des Lichts. Sie wünscht sich, es würde bleiben,
und weiß, dass es nicht bleiben wird. Sie wünscht sich, Jeff würde in dieses Farbenspiel
eintauchen. Aber das wird er nicht tun. Er ist lange weg, schon hinter den fernen
Felsen.
Regen schlägt an ein Fenster im
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