Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
bitte den Karton da. Ich sammle die Scherben ein.«
Sydney beobachtet verblüfft die Brüder, die arbeiten, als wären sie von
der Putzkolonne, um die Spuren des Ausbruchs, der noch keine Minute her ist, zu
beseitigen. Sie legt den Brief auf die Arbeitsplatte und tupft das Papier vorsichtig
mit Küchenkrepp ab.
Als sie sich herumdreht, steht der Tisch wieder.
»Ich finde, wir sollten uns jetzt alle setzen«, erklärt Mr. Edwards,
die Hände an der Lehne eines Küchenstuhls. Die Angst hat ihn schon klein gemacht.
Es sind nicht genug Stühle da. Ben, der plötzlich bemerkenswert nüchtern
scheint, bleibt an die Kücheninsel gelehnt stehen.
»Sydney«, sagt Mr. Edwards.
Er ist zehn Jahre älter als bei seiner Geburtstagsfeier. Hat er zu viel verlangt,
als er die Kerzen ausblies? Hat er den Zorn der Götter erregt? Grausames Geschick,
dass sie so schnell sein Glück umkehren sollten.
»Ich weiß, im Moment ist alles sehr verwirrend«, beginnt er, »aber versuchen
Sie zurückzudenken. Ist Julie regelmäßig aus dem Haus gegangen? Vielleicht um sich
mit jemandem zu treffen?«
Sydney spürt die Blicke der anderen auf sich. Sie möchte um Julies willen,
um Mr. Edwards’ willen, so klar und präzise wie möglich antworten.
»Ich war nicht jede Minute mit ihr zusammen«, erklärt sie. »Es kam immer
wieder vor, dass ich allein spazieren gegangen bin oder in meinem Zimmer war. Es
ist möglich, dass sie ausgegangen ist. Aber nicht regelmäßig. Und ich habe es nie
mitbekommen.«
»Denken Sie nach!«, befiehlt Mrs. Edwards.
»Das tut sie ja«, sagt Mr. Edwards und deckt die auf dem Tisch ruhende
Faust seiner Frau mit seiner Hand zu.
»Sie hätten auf Sie achtgeben müssen«, fährt Mrs. Edwards Sydney an.
»Dafür haben wir Sie bezahlt.« Ihr Gesicht sieht aus, als hätte es sich völlig verschlossen;
ein geradliniges Viereck mit dicken Strichen, wo eigentlich die Augen und der Mund
sein müssten.
»Mama«, sagt Ben.
»Jede einzelne Minute?«, fragt Jeff.
»Also, mir persönlich fällt es sehr schwer, zu glauben, dass meine Tochter
eine Beziehung zu einem wildfremden Menschen angefangen haben soll, ohne dass Sydney
etwas davon gemerkt hat.«
Einen Moment lang liegt die Beschuldigung auf dem Tisch – unerwidert,
unwidersprochen –, während hinter ihnen das Barometer aus Holz und Messing weiter
den Luftdruck registriert.
»Ich verstehe nicht«, sagt Mr. Edwards, »warum Julie nicht geschrieben
hat, wohin sie will. Warum die Heimlichkeit?«
»Weil ihr sofort losgefahren wärt und sie zurückgeholt hättet«, versetzt
Ben.
»Ach, es ist furchtbar, dass ich das sagen muss«, meint Mr. Edwards
und schlägt die Hände vors Gesicht, »aber haltet ihr es für möglich, dass sie den
Brief unter Zwang geschrieben hat?«
Sydney, die den Brief vor sich liegen hat, liest ihn noch einmal.
Das Papier ist gewellt, die Buchstaben sind großenteils verwischt, aber
wenn man weiß, was da steht, kann man es entziffern.
»Nein, das ist Julie«, erklärt Sydney. »Ich meine nicht nur ihre Schrift.
So würde sie sich ausdrücken. So würde sie schreiben. Auch dass mein Name falsch
geschrieben ist, passt dazu.«
»Ach, Sie kennen sie gut genug, um zu wissen, wie und was sie schreiben
würde«, blafft Mrs. Edwards sie an, »aber Sie hatten keine Ahnung davon, dass sie
vorhatte, von zu Hause wegzulaufen?«
Ihr ganzes Gesicht bebt vor Zorn.
Sydney versucht zu erklären. »Nach dieser ersten Geschichte bestand kein
Grund zu glauben –«
»Nach welcher ersten Geschichte?«, unterbricht Mrs. Edwards, der selbst
in der Verzweiflung so leicht nichts entgeht.
Zu spät fällt Sydney ein, dass Mrs. Edwards nichts von Julies nächtlicher
Eskapade weiß.
»An einem Abend vor zwei Wochen«, wirft Jeff schnell ein, »ist Julie
spät nach Hause gekommen, und sie hatte getrunken.«
»Getrunken? Was?«
»Das wissen wir nicht.«
»Du meinst, sie war betrunken?«
»Ja.«
»Warum hat mir niemand etwas davon gesagt?«
Keiner antwortet.
»Ihr habt es alle gewusst?« Mrs. Edwards’ Stimme schwillt an. »Mark,
du auch?«
Widerstrebend sieht Mr. Edwards seiner Frau in die Augen. Sydney merkt
ihm an, wie schwer es ihm fällt. »Ja, ich auch«, antwortet er. »Sydney kam einmal
abends zu mir, als du aus warst, und hat es mir erzählt.« (Nicht ganz richtig, denkt
Sydney. Mrs. Edwards hatte auf dem Sofa gelegen und gelesen.)
Mrs. Edwards kneift einen Moment die Lippen zusammen, dann stößt sie
explosionsartig die Luft aus. »Ich verstehe
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