Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
wirft seine Windjacke beiseite. Sie landet vor der Spüle, wo Tullus
sie neugierig beschnuppert.
»Und wo seid ihr gewesen?«, erkundigt sich Ben in beiläufigem Ton.
»Das ist eine ernste Sache«, sagt Jeff.
»Ja, das habe ich mitgekriegt«, versetzt Ben, seinen Bruder absichtlich
missverstehend.
Sydney setzt sich an den Tisch und zieht den Brief zu sich heran. Während
sie liest, schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf und entgleitet ihr sofort wieder.
Noch einmal geht sie den Brief durch und versucht, den Gedanken, das Bild zurückzuholen.
Sie schließt die Augen, um nachzudenken. »Wo hat sie den Brief hingelegt?«, fragt
sie.
»Auf ihr Kopfkissen«, antwortet Ben. »Wir haben ihn erst bemerkt, als
wir anfingen, nach ihr zu suchen.«
Jeff greift sich an den Kopf wie ein Verzweifelter. »Wir sollten…«
»Was, Jeff?«, fragt Ben. »Durch die Gegend fahren und sie suchen? Welche
Richtung schlägst du vor? Norden? Süden? Richtung Portsmouth? Richtung Boston?«
Jeff lässt die Hände herabfallen. »Dad ist sicher völlig außer sich.«
»Glaubst du?«
Ben kippelt auf den Hinterbeinen seines Stuhls. Er hält sein Glas in
der Hand und scheint die Oberflächenspannung seines Drinks zu studieren. »Weißt
du was, Jeff, du bist echt gut.«
Jeff packt ein Geschirrtuch, das am Griff der Kühlschranktür hängt, und
trocknet sich Gesicht und Haare.
»Du hast es Vicki wann gesagt? Dienstagabend? Genau, Dienstag, denn sie
hat mich am Mittwochmorgen im Büro angerufen. Also, lass mal sehen, heute haben
wir Freitagabend – hatten wir Freitagabend –, und du hast
bereits die gute Sydney genagelt , um es mal so auszudrücken.«
(Ben muss sehr wütend sein.)
»Halt den Mund, Ben.«
»Einer von der schnellen Truppe«, sagt Ben zu Sydney gewandt. »War er
immer schon. Sind Sie beeindruckt? Sie sollten es sein.«
»Julie ist verschwunden«, ermahnt Sydney die Brüder. Irgendwo da draußen,
denkt sie, fährt Julie in einem Auto oder isst einen Hamburger oder lacht.
»Genau. Tja. Wir sind am Arsch«, sagt Ben und lässt seinen Stuhl nach
vorn kippen, dass die Füße auf den Boden knallen. Sydney fährt bei dem Wort und
dem Geräusch zusammen.
Jeff wirft das Geschirrtuch auf die Arbeitsplatte. »Du bist betrunken
Ben. Geh ins Bett.«
»Aber genau so ist es. Wir sind am Arsch. Die ganze Familie ist am Arsch.«
Sydneys Rock klebt nass und sandig an ihren bloßen Beinen. Sie schlüpft
aus der Regenjacke. Als sie aufblickt, bemerkt sie, dass Ben ihre Bluse anstarrt.
Hat sie sie im Dunkeln falsch geknöpft?
»Ich bin froh , dass Julie weg ist«, sagt er
und sieht dabei Jeff an. »Was hatte sie denn hier für ein Leben? Sie war eingesperrt.
Oh, natürlich, sie hat gemalt . Na toll. Oh, natürlich,
sie hat im Rosengarten mitgeholfen. Sie war eine Gefangene
in ihrem eigenen Haus. Sie wäre nie freigekommen.«
(Ich vermute, ein Mann wird sie finden.
Nicht zu bald, hoffentlich.
Nein, nicht zu bald.)
»Lasst uns doch einfach mal überlegen«, schlägt Sydney vor.
»Ah, jetzt auf einmal will sie helfen«, bemerkt Ben zu Jeff gewandt.
»Das ist wirklich unangebracht«, sagt Jeff mit der etwas skurrilen Höflichkeit
des Akademikers.
»Unangebracht? Unangebracht? « Ben knallt sein
Glas auf den Küchentisch. »Das wollen wir doch mal sehen.« Mit einem Ruck beugt
er sich vor. »Julie haut ab, und wo ist Sydney, ihre neue Busenfreundin? Vögelt
draußen am Strand mit meinem Bruder.«
Mit einer einzigen schnellen Bewegung kippt Jeff seinem Bruder den Tisch
auf den Schoß. Ben fährt zurück, und die Tischkante schlägt auf den Fußboden. Die
Maker’s-Mark-Flasche geht vor Sydneys Füßen in Scherben. Julies Brief flattert zu
der Bourbonpfütze hinunter. Sydney bückt sich und reißt ihn weg.
Wie durch den Tumult herbeigerufen, öffnet Mr. Edwards die Küchentür.
Er hält sie seiner Frau auf. »Was…?«
Beide Eltern haben gerötete Augen, entweder vom Schlafmangel oder vom
Weinen.
»Ist Julie wieder da?«, fragt Mr. Edwards.
Die Brüder, eben noch voller Hass aufeinander, mutieren blitzschnell
zum Team. Jahrelange Übung in der Kindheit, vermutet Sydney.
»Was haben sie bei der Polizei gesagt?«, erkundigt sich Jeff, eine Frage
mit einer Frage abwehrend.
Mr. Edwards tritt in die Küche. »Was zum Teufel ist hier los?«
Seine Frau steht mit hochgezogenen Schultern hinter ihm, die Handtasche
an ihre Brust gedrückt.
»Ich bin gestolpert«, erklärt Jeff, »und gegen den Tisch gerumpelt. Ben,
gib mir doch mal
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