Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Weitere Befragungen erübrigten sich, da
zum Zeitpunkt des unerwarteten Eintreffens der kanadischen Polizei Julie Edwards
offensichtlich wohlbehalten und voll konzentriert in einer Ecke vor einer Leinwand
saß und Birnen malte. Erstaunt über die ganze Aufregung, sagte sie sofort bereitwillig:
»Oh, ich rufe an«, und ging gleich ans Telefon.
Die Tränen ihres Vaters waren ansteckend. Innerhalb von Minuten konnte
Julie vor Schluchzen kaum noch sprechen. »Kann ich mal mit Sydney reden?«, bat sie,
in kurzen Stößen atmend.
Sydney ging ans Telefon.
»Sie wollen herkommen, aber ich möchte, dass Sie kommen«, sagte Julie.
»Ich möchte, dass Sie Hélènes Wohnung sehen. Und Hélène kennenlernen.«
Typisch Julie, dachte Sydney, die Prioritäten anders zu setzen.
Ein kurzer Familienrat wurde abgehalten, dann wurde entschieden.
»Sydney und Jeff fahren nach Montreal«, sagte Mr. Edwards. »Auf Sydney
hört Julie am ehesten, aber ich möchte nicht, dass sie allein reist.«
Jeff stimmte gern zu.
Ben war bei der Besprechung nicht dabei, er war nur Stunden nach dem
Streit mit seinem Bruder nach Boston abgereist.
Sydney konnte Mr. Edwards’ Überlegungen nur ahnen: Würde er oder Jeff
allein nach Montreal reisen, so wäre möglicherweise Julies Autonomie gefährdet,
ganz zu schweigen von Hélènes Sicherheit.
Jeff und Sydney fuhren bis White River Junction, gleich jenseits der
Grenze von New Hampshire in Vermont. Von dort nahmen sie den Zug nach Montreal.
Die Umstände der Reise – das Gefühl, eine Mission zu haben, das rhythmische Geräusch
der Räder auf den Schienen, die schnell in der Ferne zurückbleibenden Lichter –
sorgten für eine absurde und völlig unpassende Flitterwochenstimmung.
Genau wie die körperliche Nähe. Sydney konnte Jeffs Abwesenheit kaum
aushalten, nicht einmal über eine kurze Zeit (wie zum Beispiel, als er zum Bistrowagen
ging, um Lunchpakete zu kaufen). Es war, als wäre sie mit der Nacht am Strand in
einen anderen Zustand übergegangen, in dem schlichte Tatsachen und ein klarer Kopf
keine Relevanz besaßen.
Jeff schien ähnlich zu empfinden. Obwohl sie Hüfte an Hüfte und Schenkel
an Schenkel nebeneinandersaßen, musste er sie ständig berühren, döste an ihre Schulter
gelehnt, strich ihr mit den Fingern den Rücken hinauf und hinunter und unter das
Haar, eine so wunderbar wohlige Berührung, dass Sydney in beinahe hypnotische Verzückung
geriet.
»Deine Haut ist wie Seide«, flüsterte Jeff ihr ins Ohr und rief damit
einen prickelnden Schauder hervor.
Beide machten sie sich ein Bild von Julies Hélène, keines war richtig.
Sydney, die die Frau allzu kurz in Fleisch und Blut gesehen hatte, stellte sich
eine drahtige Sportlerin mit am Kopf anliegendem schwarzen Haar vor. Jeff erwartete – zweifellos eine typische Männerphantasie, dachte Sydney – eine Femme, eine weibliche
Lesbe mit blond gelocktem Haar, und hielt an diesem Bild auch fest, als Sydney ihm
ihre mageren Gegenbeweise präsentierte.
Jeff blieb im Hotel, während Sydney mit einem Taxi zu der angegebenen
Adresse fuhr. Hélène, die Sydney an der Tür ihrer Wohnung, fünfter Stock, ohne Lift,
im alten Teil der Stadt empfing, war weder eine Femme noch dunkelhaarig. Sie war
eine zierliche Frau mit hellbraunem Haar und ausgesprochen europäischen Gesichtszügen
(der Neoprenanzug hatte gestreckt; das Wasser dunkler getönt). Julie sprang von
ihrem Hocker in der Ecke und fiel Sydney ungestüm um den Hals. Nicht das Ungestüm
der Erleichterten, glaubte Sydney, sondern vielmehr das der endlich Befreiten.
Hélène, die sich der Empfindlichkeiten bewusst war, fasste Julie während
des Besuchs nicht an – keine Zärtlichkeiten, keine besitzergreifenden Gesten –,
ließ es aber zu, dass Julie sie in ihrem Überschwang immer wieder einmal umarmte,
während sie in einer Küche Tee machte, die so ökonomisch eingerichtet war wie der
Rest der kleinen Wohnung bis hin zum einfachen Badezimmer mit dem gediegenen Zubehör:
den Frottiertüchern, dem Marmorwaschbecken, dem Kristallglasspender mit einer bemerkenswert
wirkungsvollen Handcreme.
Das Ungewöhnlichste an der sonst recht bescheidenen Wohnung war eine
Fensterfront zur Straße. Sie hatte sechzehn bleigefasste Scheiben pro Fenster, und
die Wand darunter war dunkel getäfelt. Bei einem bestimmten Licht fühlte Sydney
sich in die Niederlande des siebzehnten Jahrhunderts versetzt und meinte, sie brauchte
nur den Kopf zu drehen, um Julie mit ihrem Gesicht von
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