Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Vermeer-Fenstern abspielte, verweilte aber nicht bei Einzelheiten.
Auch wenn Julie kein Kind mehr war und ein Recht auf ein glückliches Liebesleben
hatte – sie hatte weiß Gott nie strahlender ausgesehen –, würden Jeff und Sydney
vielleicht doch mehr als eine Woche und einige unbestreitbare Tatsachen brauchen,
um sich auf Julies neues Leben einzustellen.
Und es kamen einige unbestreitbare Tatsachen ans Licht. Nach ihrem mutigen
Ausflug ins Wasser an dem Tag, an dem Sydney sie bei der Hand genommen hatte (und
ihren merkwürdigen Worten, ALLES OKAY, deren Wiederholung Sydneys Gedächtnis auf
die Sprünge geholfen hatte), hatte sich Julie angezogen und war wieder an den Strand
hinausgegangen. Dort hatte sie sich hingesetzt, die Arme um die hochgezogenen Knie
geschlungen, und Hélène beim Surfen zugesehen. So wenig wortgewandt wie eh und je,
konnte Julie nur berichten: »Es hat so schön ausgesehen«, wobei unbestimmt blieb,
ob sie vom Anblick Hélènes im Neoprenanzug oder vom Surfen sprach.
Als Hélène aus dem Wasser kam, fingen die beiden jungen Frauen ein Gespräch
an. Sie unterhielten sich über eine Party.
»Wo?«, fragte Jeff, immer noch ein wenig pikiert über seine vergebliche
Suche.
»In dem Strandhaus, in dem sich die Surfer immer alle treffen«, antwortete
Hélène höflich.
Dass Julie an dem Abend zu viel getrunken hatte, war nicht gewollt und
sehr bedauerlich gewesen. Hélène war es gelungen, aus Julie herauszubringen, wo
sie wohnte, und sie hatte sie nach Hause gefahren. Sie hatte sie bis zur Haustür
gebracht und sich darauf verlassen, dass Julie den Rest allein schaffen würde.
Und dabei wäre es vielleicht geblieben, hätte nicht Julie bei ihren Spaziergängen
am Strand immer wieder nach Hélène Ausschau gehalten. (Bei was für Spaziergängen?,
hätte Sydney gern gewusst. Hatte Julie das Haus jeden Tag nur Minuten nach Sydney
verlassen?) Es war nicht klar, ob die Liebesbeziehung an diesem ersten Abend der
Trunkenheit begonnen oder sich im Lauf der Zeit erst entwickelt hatte, aber weder
Jeff noch Sydney hatten Lust, danach zu fragen.
Als Hélènes Urlaub vorbei war und sie nach Montreal zurückmusste, wollte
Julie unbedingt mit ihr fahren. Zuerst hatte Hélène Einwände erhoben, aber dann
war sie doch einverstanden gewesen. (War gern einverstanden gewesen, vermutete Sydney.)
Hélène merkte erst, dass in Julies Koffer Leinwände und Farben waren,
als der Geruch von Terpentin und Leinöl aus dem Kofferraum des alten Peugeot nach
vorn drang. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden bereits in Burlington und dachten
nicht an Umkehr.
Julies Glück war spürbar, greifbar und musste das Glück aller anderen
in den Schatten stellen. Obwohl Sydney nicht daran zweifelte, dass Hélène Julie
wirklich gernhatte, wirkte die Freude der Kanadierin im Vergleich verhalten.
Auch das Glück Jeffs und Sydneys erschien in Julies Gegenwart gedämpft,
und das beunruhigte Sydney, als könnten sie und Jeff dieses Maß an Glückseligkeit
niemals erreichen.
Allein mit Jeff jedoch empfand Sydney ihr Leben als vollkommen. Das Essen,
der Wein und eine ständige angenehme Mattigkeit, eine Folge von häufigem und spontanem
Sex, steuerten zu einem Gefühl von Unbeschwertheit und Wohlbefinden bei. Die Woche
schien nicht mehr als eine Zeitspanne des Glücks zu sein, die Zukunftserwartungen
und zärtliche Erinnerungen entstehen ließ. Möglich auch, dass es leise Anzeichen
grundsätzlicher Unterschiedlichkeit gab. Sydney bemerkte, auch wenn sie nichts darüber
sagte, Jeffs Vorliebe für lange Spaziergänge ohne sie – ebenso wie das häufige Nachlassen
seiner Aufmerksamkeit, wenn er mit seinen Gedanken woanders war. Sie sagte auch
nichts über die feine Veränderung, die ihr an ihm auffiel und die sich in einer
Art Wanderlust äußerte, einem übertriebenen Geschmack an allem Europäischen, vor
allem europäischen Zigaretten und Weinen. Sie fand diese Kleinigkeiten kaum der
Rede wert.
Als die Woche um war, nahmen sie alle vier den Zug über die Grenze und
fuhren von White River Junction aus mit dem Wagen weiter zum Sommerhaus. Sydneys
Stellung hatte sich schlagartig geändert, nie wieder würde sie in die einer Angestellten
zurückkehren, und das veranlasste sie manchmal, sich zu fragen, ob komplexe Beziehungsgeflechte,
bei denen es um Freude, Enttäuschung, sexuelle Spannung und kaum verhohlenen Antisemitismus
ging, jemals im Kontext der Familiendynamik aufgelöst werden konnten.
Beim ersten Zusammentreffen mit den
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