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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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altniederländischer Schönheit
in barocken Röcken mit dem Stickrahmen in der Hand vor sich zu sehen.
    »Es tut mir leid, Sydney. Es tut mir so leid. Ich hätte es Ihnen sagen
sollen. Aber ich dachte…«, sprudelte Julie zerknirscht. Ihr Bedauern kam von Herzen.
    »Ist schon gut«, sagte Sydney. »Ich versteh’s ja. Wirklich. Es war nur
die Art und Weise, wie du es gemacht hast – die hat deinen Eltern Angst gemacht.
Uns allen.«
    »Aber ihr hättet mich doch alle aufgehalten«, protestierte Julie, um
ihre Verteidigung zu untermauern.
    Sydney rief Jeff im Hotel an. Als er in Hélènes Wohnung erschien,
hatte sie das absurde Gefühl, auf einem Pärchentreffen zu sein.
    Während Sydney Hélène reserviert, aber höflich begegnete (da sie keinen
ungerechtfertigten Auftritt provozieren wollte), schlug Jeff einen scharfen Ton
an. Er verlangte zu wissen, wie es Hélène gelungen war, Julie zu überreden, ihr
Zuhause und ihre Familie zu verlassen, und ließ sich erst nach langer Diskussion
bei Tee und ausgezeichnetem Gebäck – eine Szene, die durch Hélènes ausländischen
Akzent und die Vermeer-Fenster ein entschieden fremdartiges Flair bekam – davon
überzeugen, dass Julie darum gebettelt hatte, Hélène nach Montreal begleiten zu
dürfen.
    Jeff gab seinen Eltern Bescheid. Obwohl sich Mr. Edwards verständlicherweise
über die Neuigkeiten nicht begeistert zeigte (er vermisste seine schöne Tochter
und fühlte sich vermutlich einsam ohne sie, ganz zu schweigen von der Tatsache,
dass Julie die Schule nicht zu Ende machen würde), einigte man sich auf einen Kompromiss.
    Julie würde am folgenden Wochenende zusammen mit Hélène, Jeff und Sydney
in das Sommerhaus zurückkehren. Ziel war es, auf zivilisierte Art eine Entspannung
der Situation herbeizuführen.
    Julies Reisepass wurde geschickt, damit sie auf legalem Weg ins Land
zurückkehren konnte. (Man konnte ohne Pass nach Kanada einreisen, wie Sydney erfuhr,
aber kam dann nicht mehr in die Staaten hinein.) Jeff und Sydney verbrachten die
Woche – Jeffs Urlaubswoche – nicht im Sommerhaus, wo über allem das drohende Chaos
schwebte, sondern in Montreal, in dem kleinen Hotelzimmer mit den zwei ungewöhnlich
schmalen Eisenbetten.
    Bei der Rückkehr von diesem ersten Besuch bei Julie bemerkte Sydney,
dass Jeffs Hände zitterten.
    »Glaubst du, sie sind schon intim?«, fragte er, als sie in den Hotelaufzug
traten.
    »Ja«, antwortete Sydney, der das leichte Absacken des Aufzugs bei jedem
Halt nicht geheuer war. Sie mochte keine Aufzüge, in denen sie daran erinnert wurde,
dass Seile reißen, Flaschenzüge den Dienst versagen können.
    »Ich bin nur… es erscheint mir so…«
    »Ich weiß«, sagte sie.
    Jeff lehnte sich an eine gepolsterte Querstange an der Rückwand der kleinen
Kabine. Er schien völlig erledigt zu sein. »Hat sie auf dich glücklich gewirkt?«,
fragte er.
    »Sehr.«
    »Sie ist erst achtzehn.«
    »Ich freue mich für sie«, fügte Sydney hinzu.
    »Du glaubst nicht, dass diese Hélène sie nur benutzt?«
    »Benutzen? Wozu?«
    »Zum Sex. Um jemanden kontrollieren zu können?«
    Sydney überlegte. »Es kann beides zutreffen. Beim Sex bietet es sich
an. Julie ist schön. Sie ist außerdem vertrauensselig. Aber ich glaube nicht, dass
Julie so leicht zu kontrollieren ist, wie man glauben möchte. Ich habe mich in der
Hinsicht jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert. Ich war große Teile des Tages mit
ihr zusammen und hatte trotzdem keine Ahnung, dass sie sich mit Hélène traf.«
    »Sollte ich mir Sorgen machen?«, fragte er.
    »Wir sollten nicht ganz sorglos sein«, versetzte
Sydney, sich selbst einschließend, »und auf die beiden aufpassen. Ich konnte Hélène
immerhin das Versprechen abnehmen, dass sie uns Bescheid geben, wenn sie vorhaben,
auf Reisen zu gehen. Ich möchte nicht, dass dein Vater das alles noch einmal durchmachen
muss.«
    »Hast du –«, begann Jeff, der anscheinend überlegte, wie genau er die
möglicherweise heikle Frage formulieren sollte. »Ist dir irgendetwas aufgefallen,
was darauf hingedeutet hätte, dass Julie homosexuell ist?«
    »Es hat mich genauso überrascht wie dich.«
    »Ich habe nur überlegt, ob sie jemals –«
    »– einen Annäherungsversuch gemacht hat? Nein.«
    Der Aufzug sackte kurz ab und hielt an. »Was glaubst du, wie alt Hélène
ist?«, fragte Jeff.
    »Sie ist fünfundzwanzig. Ich habe gefragt.«
    Die Tür ging auf, und Sydney trat in den dunklen Korridor des alten Hotels
hinaus. Jeff führte sie durch ein

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