Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
anders abgelaufen: Sydney war von einer
Mauer aus Respekt umgeben gewesen. Wenn Männer sich ihr näherten, waren sie vorsichtig,
behutsam, immer verständnisvoll. Nach Jeff jedoch, scherzte Emily, habe man den
Eindruck, es gingen negative Schwingungen von Sydney aus. Sydney hielt das für durchaus
zutreffend: Schwingungen, die sich nach außen verbreiteten, konnten sich als wirksame
Abwehr erweisen.
Sydney mochte ihre Arbeit über die Entwicklung adoleszenter Mädchen,
konnte sich bisweilen sogar einreden, ihre Forschung sei aktuell und notwendig,
auch wenn die ganz normale Angst sie quälte, die wissenschaftliche Methode könne
die Antworten nicht schnell genug liefern. Ähnliches, meinte sie, mussten Krebsforscher
empfinden: einen ungeheuren Druck, das Heilmittel zu finden, bevor weitere Tausende
starben. Auch wenn ihre Arbeit weniger dringlich war, so kam es nur selten vor,
dass sie gefährdete junge Mädchen auf den Straßen Bostons nicht bemerkte. Sie waren
häufig üppig entwickelt und schäbig bekleidet, sehr jung und in Begleitung älterer
Männer. In Anträgen auf Fördergelder war es Sydneys erklärtes Ziel, die Aussichten
solcher adoleszenter Mädchen zu verbessern. Im Stillen hoffte Sydney einfach, den
Mädchen zu helfen, sich vor sich selbst zu retten.
Nachdem Jeff Sydney, deren neue Adresse er telefonisch von ihrer Mutter
erfragt hatte, den Scheck geschickt hatte, sandte er ihr einen Packen Briefe von
Julie und Mr. Edwards nach. Sydney hatte das Gefühl, dass Jeff viel im Ausland
war, aber sie widerstand der Versuchung, bei seiner Abteilung am MIT anzurufen,
nur um festzustellen, ob er zurzeit dort unterrichtete.
Nach einiger Zeit hatte selbst Julie nicht mehr geschrieben, zweifellos
enttäuscht darüber, dass die Freundin, die beinahe ihre Schwägerin geworden wäre,
nicht antwortete. Sydney hatte gelitten, als sie die innigen, wenn auch schlichten
Zeilen gelesen hatte, aber noch heftiger hätte sie gelitten, wenn sie mit Julie
in einen Briefwechsel getreten wäre oder auch mit Mr. Edwards, dessen kurze Schreiben
stets mit einer Entschuldigung endeten, die nie seine Sache gewesen wäre.
Von Jeff hörte sie nichts. Von Ben auch nicht. Von Mrs. Edwards vernahm
sie manchmal – wie ein unvermitteltes Wort im Rauschen des Äthers – einen deutlichen,
wenn auch gedämpften Seufzer der Erleichterung.
Eine feuchte Hundeschnauze an ihrem Fuß weckt Sydney, und sie zieht
automatisch ihr Bein weg. Noch schlaftrunken, setzt sie sich auf. Sie beschattet
die Augen mit der Hand und blinzelt in Richtung Hund.
»Ich habe ihn von der Leine gelassen«, sagt ein Mann.
Sydney spürt, wie ihr Körper regelrecht erstarrt, noch bevor sie ganz
wach ist. Sie kann den Mann, der vor ihr steht, gegen die Sonne nicht erkennen,
aber sie weiß, wer er ist.
»Hallo«, sagt Ben. »Was tun Sie denn hier?«
Die Familie bleibt nie länger als bis zum Labor Day.
»Wie spät ist es?«, fragt Sydney, bemüht, ihre Verwirrung zu verbergen.
»Halb zwölf.«
»Oh, ich komme zu spät«, sagt sie und steht auf. Tullus hopst ihr um
die Beine wie ein übermütiges Fohlen.
»Wohin kommen Sie denn zu spät?«, erkundigt sich Ben.
»Zu einer Konferenz. An der UNH. Die erste Veranstaltung fängt punkt
zwölf an.«
»Das werden Sie kaum noch schaffen.«
Um Zeit zu gewinnen, beugt Sydney sich zu Tullus hinunter und krault
ihn hinter den Ohren. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals.
Der Hund scheint zufrieden und galoppiert davon. Als Sydney sich aufrichtet,
bemerkt sie, dass Bens weißes T-Shirt schweißnass ist. Er ist offenbar gelaufen.
Sein Körper ist unverändert, kräftig und muskulös, wirkt unverletzlich wie immer.
»Und was tun Sie hier?«, fragt sie, nicht ganz
unberechtigt. Es ist schließlich Mitte September. Der Strand ist leer bis auf ein
paar Wanderer.
Doch Ben scheint ihr nicht antworten zu wollen.
»Sydney«, sagt er schließlich nur und hält inne.
Sydney neigt fragend den Kopf. Warum diese Betonung ihres Namens, diese
unnatürliche Pause, als sollte eine Bekanntmachung folgen?
»Ja?«, fragt sie und fürchtet sich schon vor seiner Antwort.
»Mein Vater ist gestorben.«
Die Nachricht trifft sie wie ein Schlag. Sie schwankt, ihre Hände greifen
in die Luft. »Oh, Ben«, sagt sie.
Ben sieht sie an und schaut dann weg. »Er hatte mehrere Schlaganfälle.
Eine ganze Reihe von Schlaganfällen, sollte ich sagen. Sie haben ihn zum Invaliden
gemacht. Danach ging es sehr schnell.«
»Wann?«, fragt Sydney.
»Im
Weitere Kostenlose Bücher