Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
gnädig der Sand sein kann, wie er
den Körper anzunehmen, ja, fraglos in sich aufzunehmen scheint. In der Ferne kann
sie das Kläffen eines Hundes hören, der Möwen jagt.
Sydney hat sich manchmal gefragt, ob Jeff damals die Tickets benutzt
hat und allein nach Paris geflogen ist. Als sie endlich den Mut aufbrachte, die
Wohnung in Cambridge aufzusuchen, sah es dort genauso aus wie an dem Tag, als sie
sie gemeinsam verlassen hatten, um zu der Hochzeit zu fahren, die nie stattgefunden
hat. Ein Koffer, der nicht gebraucht worden war, lag auf dem Bett, in der Küche
stand noch das Bügelbrett. Da sie sich nicht an Freunde wenden wollte, obwohl die
Anzahl der Nachrichten auf dem Anrufbeantworter bewies, dass Freunde versucht hatten,
sie zu erreichten, mietete sie einen kleinen Transporter, um ihre Möbel in einer
Lagerhalle unterzustellen, bis sie eine eigene Wohnung gefunden hatte.
Jeff hatte eine Leere hinterlassen, und was er getan hatte, war demütigend
gewesen, wegen des Zeitpunkts und der öffentlichen Kulisse, die er gewählt hatte.
Aber das Erstaunlichere in der Rückschau war nicht die Tatsache, dass Jeff sie verlassen
hatte, sondern vielmehr, dass er ihr überhaupt nachgestellt hatte. Es schien eine
bemerkenswerte Willensanstrengung, eine Theatervorstellung, die über viele Tage
hinweg gegeben wurde, mit ausschließlich begeisterten Besprechungen. Wenn sie geglaubt
hatte, er dächte über Algorithmen und Terroristen nach, hatte er da stattdessen
über seinen eigenen Verrat nachgedacht? Hatte er jeden Tag genau gewusst, was er
tat? Oder war das alles auf einer unbewussten Ebene abgelaufen und ihm erst mit
dem Näherrücken der Hochzeit bewusst geworden? Es fiel Sydney schwer, an so viel
Verstellung zu glauben. Szenen in Montreal und Cambridge rief sie sich wieder und
wieder ins Gedächtnis, um in seinem Gesicht nach Zeichen seines Betrugs zu forschen.
Und hätte Jeff nicht entsetzlich unglücklich sein müssen, entweder um seiner selbst
willen oder um Sydneys willen, wenn man annahm, dass er auch nur das Geringste für
sie empfunden hatte? Konnte sie auch nur an einen einzigen Moment dieser elf Monate
glauben, die sie mit ihm zusammen gewesen war? Musste sie jetzt alle ihre Entscheidungen
in Zweifel ziehen?
Emily überredete Sydney schließlich, die Arbeit an ihrer Dissertation
über Entwicklungspsychologie wieder aufzunehmen, nachdem sie selbst schon einige
Wochen mit dem Gedanken gespielt hatte. Sie dachte an die Forschungsarbeit, den
Unterricht, den Termindruck – es schien das zu sein, was sie brauchte. Sie machte
sich auf die Suche nach einer Wohnung in der Nähe der psychologischen Abteilung,
wo sie den größten Teil ihrer Zeit zubringen würde. Die Mieten waren hoch, und sie
hatte nicht viel Geld, aber sie ging trotzdem nicht an das Konto, das Jeff und sie
im Hinblick auf ihre gemeinsame Zukunft eingerichtet hatten, auch wenn es die gemeinsame
Zukunft jetzt nicht mehr gab. Sie war sicher gewesen, dass er ihr irgendwann einen
Teil des Geldes schicken würde, was er auch getan hatte. Kein persönliches Wort
hatte den Scheck begleitet.
Sydney bemühte sich, nicht an Jeff, Julie und Mr. Edwards zu denken;
ihn aus ihrem Gedächtnis zu streichen fiel ihr am schwersten. Nach mehreren Wochen
Suche fand sie ein tristes Apartment nur wenige Straßen von dem Gebäude entfernt,
in dem sie sich bald in die Arbeit stürzen würde. Im Gegensatz zu den meisten Rückkehrern
an die Graduate School sehnte Sydney den Semesterbeginn so ungeduldig herbei, dass
sie eine Stunde vor der Zeit zu ihrer ersten Vorlesung eintraf. Ihr Studienberater
klärte sie darüber auf, dass jetzt noch mehr Einsatz bei der Unterrichts- und der
Forschungsarbeit von ihr erwartet werde, was, fand sie, unverdient war, aber bestens
in ihr Konzept passte. Ihr Bedürfnis nach Alleinsein hatte sich mittlerweile beinahe
erschöpft – zumindest so weit, dass sie ab und zu nach der Arbeit mit Kollegen zum
Essen oder zu einem Baseballspiel gehen konnte. Sie hatte sich allerdings seit dem
Abendessen mit Mr. Cavalli mit keinem Mann mehr verabredet. Sie war zwar auf verschiedenen
Partys mit Männern zusammengetroffen, und einige dieser Männer hatten versucht,
mit ihr zu flirten, aber es war beruhigend, wenn auch zugleich ein wenig erschreckend,
zu sehen, wie leicht diese Männer sich abwimmeln ließen. Man brauchte nur den Kopf
zu senken; den Blicken auszuweichen; demonstrativ gequält zu lächeln. Nach Daniels
Tod waren die Begegnungen mit Männern ganz
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