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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Juni.«
    Wie in Zeitlupe, mit herabfallenden Armen, sinkt Sydney in den Sand.
Sie zieht die Knie hoch und drückt ihre Stirn dagegen. Sie schlingt die Arme um
ihren Kopf. Ach, wäre es doch nicht gerade diesem Mann passiert, der für sie immer
Mr. Edwards sein wird. Diesem Mann, dessen Briefe zu beantworten sie nicht für
nötig gehalten hatte. Diesem Mann, der immer nur gütig zu ihr war.
    »Wir sind hier, um das Haus auszuräumen«, erklärt Ben. »Meine Mutter
hat es verkauft. Die Übergabe ist nächste Woche.«
    »Es tut mir so leid«, sagt Sydney. Er weiß nicht, wie wahr die Worte
sind. Aber vielleicht weiß er es doch. Ben hat immer gewusst, was in ihr vorgeht.
    Sydney kann es nicht verhindern, dass sich die Aufschläge ihrer Hose
mit Sand füllen. Von Zeit zu Zeit bleibt sie stehen, um sie auszuschütteln, und
rollt sie schließlich so eng wie möglich bis zu den Knien auf. Ben trägt ihren Aktenkoffer.
Darin sind ihr Computer, ihre Unterlagen, ihr Handy – leblose Objekte, die beweisen,
dass sie sich anderswo ein Leben aufgebaut hat. Sydney trägt ihre Schuhe, schwarze
Pumps mit kleinem Absatz, in der Hand und in ihnen zusammengerollt die Nylonsöckchen.
Ein absurder Aufzug für den Strand.
    »Und Ihre Mutter?«, gibt Sydney zu bedenken.
    »Es wird sie gar nicht interessieren. Und wenn, dann nur flüchtig.« Ben
schweigt einen Moment. »Julie würde sich wahnsinnig freuen, Sie zu sehen.«
    Als Ben Sydney aufgefordert hat, mit ihm zu kommen, hat sie nur kurz
daran gedacht, Nein zu sagen. Sie hat allerdings eine Frage gestellt.
    »In Kenia«, hat Ben geantwortet. »Dort lebt Jeff seit einem Jahr. Er
war nur zur Beerdigung hier.«
    Sydney muss an den Tag denken, als sie mit Mr. Edwards im Garten war
und meinte, sie sollten eines Tages zusammen ins Museum gehen, um sich das Bild
anzusehen, das ihn interessierte – das Gemälde von der Hand des Mannes, der drei
Söhne in den Krieg ziehen lassen musste. Sie glaubte damals, bis dahin würde sie
Mr. Edwards’ Schwiegertochter sein. Warum hat sie ihn nicht einfach angerufen und
trotzdem mit ihm das Museum besucht?
    »Es zog sich über mehrere Wochen hin«, sagt Ben neben ihr. »Anfangs haben
wir es nicht bemerkt. An Ostern, als wir alle in Needham waren, fiel uns auf, dass
es ihm Mühe machte, aus einem Sessel aufzustehen. Ich dachte, es wäre Arthritis,
aber dann bemerkt ich, dass er auch beim Gehen Schwierigkeiten hatte. Es war, als
stimmte die Mechanik nicht. Danach wurde es für uns alle deutlich sichtbar: Er hatte
Probleme beim Essen, er machte unkontrollierte Bewegungen mit dem Arm, er hatte
Sehstörungen. Aber Sie wissen ja, wie mein Vater war, Sydney. Er hätte sich niemals
etwas anmerken lassen, wenn das möglich gewesen wäre. Er hat immer versucht, uns
zu beruhigen.«
    »Und Ihre Mutter?«
    Ben schüttelt den Kopf. »Für sie war es hart«, sagt er. »Als mein Vater
aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sind wir hierhergekommen. Meine Mutter hat
gekocht und geputzt. Sie musste ständig in Bewegung sein. Manchmal hätte ich sie
am liebsten angebrüllt und ihr gesagt, sie soll sich zu ihm setzen, aber mit der
Zeit habe ich begriffen, dass jeder von uns auf seine Weise mit diesen Dingen fertig
werden muss. Man kann das nicht vorher proben.«
    Sydney denkt an Daniels Tod. Was für ein Schock das war. Auch da hat
es vorher keine Probe gegeben. Welch eine Ironie, sagt sie sich, die Hochzeit geprobt
zu haben, aber nicht das Schauerstück, das dann tatsächlich an jenem Julimorgen
gespielt wurde.
    »Ist er hier im Haus gestorben?«, fragt Sydney.
    Ben wischt sich die Stirn mit dem Saum seines T-Shirts. »Er wollte es
so«, antwortet er. »Sie konnten nichts gegen die Schlaganfälle ausrichten. Er war
erstaunlich ruhig, nur manchmal regte er sich über den Verlust seiner Fähigkeiten
auf. An manchen Tagen war er völlig klar, an anderen schien er in einem Nebel dahinzutreiben.
Wir hatten sein Krankenbett so gestellt, dass er durch die hohen Fenster zum Wasser
hinaussehen konnte. Er hat den Kopf immer wieder zur Küche gedreht, weil er glaubte,
Jeff wäre zurück. Das Letzte, was er sagte, bevor er starb, war: ›Ist er das?‹«
    »Jeff ist nicht mehr rechtzeitig gekommen?«
    »Nur zur Beerdigung.«
    Sydney schließt einen Moment die Augen. Am liebsten würde sie sich wieder
in den Sand fallen lassen. Es ist zu viel, das kann sie nicht so schnell verarbeiten.
Das wochenlange Sterben eines Mannes in wenige Sekunden des Erzählens gepresst.
    »Julie war

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