Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
verloren. An ihren Füßen hatten sich Schwielen gebildet, so dick wie die Sohlen von Tennisschuhen. Fliegen und Läuse taten sich an ihr gütlich, unentwegt lief nach Ammoniak stinkende Flüssigkeit ihre Beine hinunter, und widerliche braune Flecken sprenkelten die blasse, von Venen durchzogene Haut.
Vor einigen Monaten hatte sich Gus nach einem Kampf mit den Vampiren im Hudson River Tunnel von den anderen getrennt. Zum einen, weil das eben in seiner Natur lag. Zum anderen wegen seiner Mutter. Ihm war klar gewesen, dass sie ihn – ihren geliebten Sohn – bald finden würde, und hatte entsprechende Vorbereitungen getroffen. Als sie dann schließlich zu ihm gekommen war, hatte er ein schwarzes Laken auf sie geworfen und sie mit einem dicken Seil verschnürt. Sie hatte sich mit ihren absurden Vampirkräften wie wild gewehrt, aber nach einer Weile war es ihm gelungen, ihr den Helm über den Kopf zu ziehen und dadurch den Stachel zu blockieren. Dann hatte er sie in das Kellergewölbe hinuntergezerrt. In ihr neues Heim.
Jetzt stand Gus am Käfig, griff mit der Hand durch die Stangen und klappte das eiserne Visier des Motorradhelms zur Seite. Schwarze, in glühendem Scharlachrot schwimmende Pupillen starrten ihn an: seelenlos, irrsinnig, hungrig. Jedes Mal, wenn er das Visier öffnete, spürte er das unbändige Verlangen seiner Mutter, den Stachel auszufahren, und je mehr sie sich gegen den Knebel wehrte, desto mehr Speichelflüssigkeit lief ihren Hals hinab.
Mama! Sieh nur, was aus dir geworden ist!
Im Laufe der Monate waren Bruno, Joaquin und Gus so etwas wie eine kleine Familie geworden. Bruno sorgte dabei für die nötige Unterhaltung; er hatte die großartige Gabe, sowohl Gus als auch Joaquin ständig zum Lachen zu bringen, und immer wenn er Gus’ Mutter sah, die mit ihrem verbeulten Motorradhelm einem ausrangierten Roboter ähnelte, musste er an dieses lächerliche B-Movie von früher denken: Robot Monster . In dem Film war es um ein affenartiges Wesen mit angeschraubtem Stahlkopf gegangen – und nun hatte Bruno den perfekten Filmtitel für die Beziehung zwischen Mutter und Sohn Elizalde: Gustavo gegen Robot Monster .
Was in ihrem unterirdischen Versteck an Arbeit anfiel, teilten die drei untereinander auf. Aber nur Gus durfte seine Mutter berühren: Er wusch sie einmal die Woche von Kopf bis Fuß und hielt ihre Zelle so sauber, wie es ihm nur möglich war. Und dann gab es da noch etwas anderes, was er tun musste …
Gus, von seiner Mutter weiterhin argwöhnisch be obach tet, zog ein kleines Silbermesser aus der Tasche und rollte den rechten Ärmel seiner Jacke hoch. Dann steckte er beide Arme durch die Gitterstäbe, etwas oberhalb des Kopfes seiner Mutter, und ritzte mit dem Messer eine kaum zentimeterlange Wunde in sein rechtes Handgelenk. Sofort lief Blut aus der Wunde – und Gus hielt seinen Arm so, dass die rote Flüssigkeit in den geöffneten Helm tropfte.
Aus dem jetzt laute, gierige Schmatzgeräusche drangen.
Wie immer gönnte er ihr ungefähr die Menge eines Schnapsglases von seinem Blut. Dann zog er die Arme wieder aus dem Käfig, ging zu einem kleinen Holztisch an der Wand, riss einen Streifen Papier von einer Küchenrolle und drückte ihn auf die Wunde. Mit einem weiteren Tuch säuberte er seinen Unterarm, auf dem er inzwischen unzählige dieser kleinen Messerschnitte hatte, die zusammen ein vernarbtes Wort ergaben: MADRE.
Nachdem er die Wunde versorgt hatte, kramte er eine Handvoll selbstgebrannter CDs aus seinem Rucksack. »Ich hab Musik für dich dabei, Mama«, sagte er. »Deine Lieblingsbands. Los Panchos, Los Tres Ases, Javier Solís …«
Traurig blickte er auf die sich vor Gier windende Kreatur im Käfig und dachte an die Frau, die ihn vor langer Zeit aufgezogen hatte. Die alleinerziehende Mutter mit dem gelegentlich hereinschneienden Ehemann und den wechselnden Liebhabern. Sie hatte immer das Beste für ihn gewollt, aber manchmal hilft es eben nicht, etwas nur zu wollen – und so hatte sie ihn an die Straße verloren. Dort, im Barrio, hatte er seine eigentliche Erziehung genossen. So viel war damals schief gelaufen, so vieles, das er jetzt nicht mehr ändern konnte … Also dachte er an die junge Mutter, die sie einmal gewesen war. Dachte daran, wie sie ihn getröstet hatte, wenn er sich mal wieder mit den anderen Jungs geprügelt hatte. Daran, dass selbst die größte Wut auf ihn nie die Liebe und Zuneigung aus ihren Augen hatte vertreiben können.
All das – verloren.
Gus
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