Die Nacht Der Jaegerin
und krumme Hintertreppe hinunter. Wenn es doch nur ein bisschen heller wäre. Er nahm einen unklaren grauen Schimmer wahr, vielleicht war es das kleine Fenster neben der Hintertür. Er spürte, dass die Küchentür unten am Ende des Flurs immer noch offen stand. Und dass Dexter in der Nähe war.
Erneut versuchte er aufzustehen, glitt mit dem Fuß über die Kante der obersten Treppenstufe und rutschte drei Stufen hinunter.
«Da sind wir ja, Kumpel. Alice stirbt gleich vor Sehnsucht, dich zu sehen.»
Alice.
«Warum der Friedhof, Dexter?», rief Lol. «Warum hast du dir die Mühe gemacht, Alice bis auf den Friedhof zu schleppen? Du hättest sie doch im Obstgarten lassen können, da hätte es vermutlich Tage gedauert, bis sie gefunden wird. Warum der Friedhof?»
Rituelles Verhalten. Dexter verstand vermutlich selbst nicht, warum er es getan hatte.
«Und warum hast du Darrin an den Ort des Unfalls von damals gebracht?»
Dexter. Er war nur ein kleines, schmieriges Zahnrad im großen, komplexen Räderwerk des Bösen.
«Darrin tut mir leid», sagte Lol. «Er hätte alles haben können. So ein reuiger Sünder hätte alles bekommen. Zum Beispiel den Imbiss.»
Der Schrei hallte zu Lol hinauf wie durch einen Windkanal. «Dieser Scheißkerl? Der hat doch einfach bloß so getan, als hätte er sich geändert und als würde ihm alles leidtun. So kommt man nämlich schneller aus dem Knast raus. Der hat garantiert zu keinem Glauben gefunden, verdammt, er ...»
«Ich glaube doch, Dexter. Aber wer soll das jetzt noch feststellen, nachdem er tot ist.»
«Komm endlich runter.»
«Du kannst bei dem Schnee doch sowieso nicht hier weg.»
«Klar kann ich weg.» Dexter war wieder in Hochstimmung, alles lief so, wie er es wollte, für ihn konnte es einfach nicht schlecht ausgehen. «Hey, rat mal, was ich gefunden hab. Einen hübschen kleinen Satz Küchenmesser. Hängen hier an der Wand. Willst du sie dir mal ansehen? Wie wär’s, wenn ich Alice mal ein bisschen pikse, damit wir wissen, ob sie schon gestorben ist?»
«Nein, ich komme runter.»
«Braver Junge.»
«Verdammt, Dexter», sagte Lol. «Woher kommst du eigentlich? Du bist ein wandelnder Fluch. Du bist die schwarze Seele deiner Familie. Du bist eine einzige große, fette Krankheit.»
Während Lol die krummen, unregelmäßigen Stufen hinunterging, stützte er sich mit den Händen rechts und links an den Wänden ab. Sein schmerzender Kopf schien über allem zu schweben – über dem Dachboden, über den schneebedeckten Dachziegeln, ganz oben im Nachthimmel, durch den die Schneeflocken wirbelten. Das letzte Mal hatte er sich auf der Bühne des
Courtyard
in Hereford so gefühlt, wo er herausgefunden hatte, dass die Leute nach all den Jahren immer noch seine Songs hören wollten. Jetzt war er froh, dass er seine Angst überwunden und dieses Konzert gegeben hatte.
Als er die Treppe fast ganz hinuntergegangen war, hörte er Dexters keuchenden Atem. Er stand an der Küchentür. Er keuchte vor Wut, das war klar. Dexters Gefühlsrepertoire war ziemlich beschränkt. Es klang ermutigend, aber es war kein ...
«Hey», sagte Lol, «hört sich das etwa nach einem bevorstehenden
Asthmaanfall
an? Würdest du eigentlich bei dieser Dunkelheit deinen Inhalator finden, was glaubst du? Oder saugst du dann an deinem eigenen ...»
Lol hatte die unterste Stufe früher erreicht, als er erwartet hatte, er stolperte, und die Schmerzen in seinem Bauch zwangen ihn in die Knie.
«Du ... was bist du eigentlich, Dexter?», flüsterte Lol. «Was bist du?»
Er ging wieder drei Treppenstufen hoch, setzte sich auf die vierte und dachte an den weißen Rausch, den er erst ein paar Stunden zuvor erlebt hatte. Als er barfuß im Spülküchenbüro auf dem Teppich gesessen und sich die Zehen am Elektroofen gewärmt hatte, während ihm Gedanken an die Frau in der Küche durch den Kopf gingen. Geborgenheit und Liebe.
Er schloss die Augen, als er Dexter auf sich zu rennen hörte, ganz Masse und Bösartigkeit, in der vollständigen Dunkelheit, und er sah Lucy Devenish neben sich, die Arme unter ihrem Poncho seitlich ausgestreckt, sodass man an Fledermausflügel denken musste.
Du musst lernen, dich zu öffnen
, sagte Lucy.
Lass die Welt wieder in dich ein.
47 Versager
Auf dem ersten Treppenabsatz begegnete Merrily einem beleibten, grauhaarigen Herrn in einem eleganten dreiteiligen Anzug. Er lehnte am Treppengeländer, sah die geschwungene Treppe hinunter und wandte sich um, als Merrily an ihm
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