Die Nacht Der Jaegerin
merken. «Na gut, ich habe schlecht geschlafen. Mir war nicht ... besonders gut. Ich weiß eben nie, wann mir meine Phantasie einen Streich spielt und wann nicht. Es tut mir leid, Amber.»
«Ich wusste zu der Zeit natürlich noch nicht, dass es früher Hattie Chancerys Zimmer war», sagte Amber.
«Die Chancerys haben dieses Anwesen gebaut, oder?»
«Ich glaube, ursprünglich hießen sie Chance, aber dann haben sie ihren Namen geändert, damit er sich vornehmer anhörte. Die meisten dieser großen viktorianischen Anwesen wurden von reichen Emporkömmlingen gebaut, die ihre eigenen Schlösser haben wollten.»
«Dann war Hattie Chancery die Frau, die ihren Mann umgebracht hat?»
«Du wusstest es also doch!»
«Damals noch nicht.»
«Ben hat es mir erst gestern erzählt. Er wusste es schon eine Zeitlang, aber ...» Ambers Stimme klang spröde. «Er dachte, seine kleine Frau könnte sich fürchten.»
«Aber es ist nicht in diesem Zimmer passiert, oder?»
«Nicht der Mord. Das war draußen, glaube ich. Es wurde nicht sehr bekannt. Vermutlich haben die Leute damals größere Sorgen mit dem Krieg gehabt, und noch dazu war sie offenbar psychisch krank.»
«Eine echte Irre?»
«Nein, Jane, man sagt
psychisch krank.
»
«Und was haben die Leute in ihrem Zimmer gesehen?»
«Ein Mann sagte, er hätte den Umriss einer Frau vor dem Fenster gesehen, und dann hätte sich der Umriss aufgelöst. Hör mal ... ich habe keine Lust, alle Einzelheiten aufzuzählen.»
«Aber das ist doch der Grund, aus dem Sie die
White Company
nicht hier haben wollen, oder?»
«Ich glaube einfach nicht, dass das hier ein glücklicher Ort ist, das ist alles. Aber ich bin ja auch bloß eine Köchin.»
«Und Sie dachten, Mom könnte etwas an der Situation ändern?»
«Jane, das war einfach so ein spontaner Einfall. Ich war eben wütend.»
«Mom hätte Ihnen geraten, die Buchung der
White Company
nicht anzunehmen. Und Sie hätten damit ja auch gut leben können, aber Ben ...»
«Schsch!»
Amber blickte an Jane vorbei, und als Jane sich umdrehte, sah sie Ben aus der Tür zum Salon kommen. Er trug sein edwardianisches Jackett und hatte die Haare zurückgegelt: sein Holmes-Outfit.
«Amber, wo ist ...
Jane
!» Ben wirkte fit und energiegeladen und kaum überrascht, dass Jane an einem Montag in Stanner Hall war. «Jane, du hast nicht zufällig die kleine Videokamera mitgebracht, die dir Largo gegeben hat, um mich zu demütigen?»
«Also, ich ...»
«Wenn ja, dann hol sie her, Süße.» Ben klatschte in die Hände. «Jetzt gleich. Alistair ist da, das Medium, und wir testen gerade aus, in welchem Zimmer er den Kontakt voraussichtlich am besten herstellen kann ...»
«Und wo willst du als Nächstes mit ihnen hin?», fragte Amber.
«Amber, das ist eine gute Sache», sagte Ben lässig.
«O nein»
, sagte Amber entschieden.
«Amber ...»
«Eins sag ich dir klipp und klar, Ben.» Ein Schatten zog über Ambers weißes Puppengesicht.
«Diese Leute kommen mir nicht in meine Küche.»
«Am liebsten würde ich Ihnen einfach erzählen, was passiert ist, ohne einen Kommentar abzugeben», sagte Merrily. «Und dann würde ich gerne hören, was Sie davon halten.» Ihr Ohr tat schon weh vom vielen Telefonieren.
«Wie förmlich», sagte Kanonikus Jeavons.
«Ich habe mit einem Polizisten gesprochen. Bei denen geht es nur noch um die Vermeidung von Formfehlern, aufgezeichnete Verhöre und was weiß ich. Alles, um sich vor einer Dienstaufsichtsbeschwerde zu schützen. Geht es in der Kirche nicht schon genauso zu?»
«Halleluja», sagte Jeavons. «Na gut, schießen Sie los, Merrilee.»
Sie hatte Jeavons trotz aller gegenteiligen Ratschläge wieder angerufen. Schließlich war nichts dabei, sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Außerdem hätte sie nie nach Dexters Vergangenheit gefragt, wenn sie sich nicht mit Jeavons unterhalten und nicht entdeckt hätte, was möglicherweise die Ursache für seine Krankheit war.
«Es geht um drei Jungs aus dem Belmont-Viertel von Hereford.» Der Predigtblock mit den Notizen lag im Licht der Schreibtischlampe neben der Bibel. «Zwei sind Brüder: Darrin und Roland Hook, dreizehn und neun Jahre alt. Dexter Harris ist ihr Cousin. Die Geschichte hat sich vor siebzehn Jahren abgespielt. Dexter war damals zwölf.»
Vor siebzehn Jahren. Das Jahr, in dem Jane geboren war. Das Jahr, in dem sie das Studium abgebrochen und Sean geheiratet hatte. Sie hatte gedacht, sie würde später weiterstudieren, aber damals schon
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