Die Nacht der Schakale
waren jetzt auch viele DDR-Fahrzeuge auf der Strecke, deren Fahrer bemüht korrekt fuhren wie Fahrschüler bei der Prüfung.
Vor Dessau wurde – einer Reparatur wegen – die Straße vorübergehend einbahnig. Es kam zu einem Stau, und ich stellte fest, daß die Fahrzeuge der linken Kolonne etwas schneller vorankamen, und hielt mich deshalb auf der rechten Seite – und dann rollten wir im Schrittempo neben dem Opel her.
»Mensch, Henry«, sagte Renate, ohne sich die Erregung anmerken zu lassen, »das ist nicht mehr der gleiche Beifahrer. Er sieht ihm zwar etwas ähnlich, aber es ist ganz bestimmt ein anderer.«
Ich hatte es schon vor ihr bemerkt. Der Austausch mußte auf einem Parkplatz ganz schnell vor sich gegangen sein. Vermutlich waren zur Zeit Gesinnungsfreunde Novotny beim Untertauchen behilflich. Mauro Dressler behauptete ja, auf DDR-Territorium ein Netz zu unterhalten – augenfälliger konnte man es nicht beweisen.
Wenn Forbach nicht doch einen der über hunderttausend IMs – wie man die inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsministeriums nennt – aufgefallen war und den Vopos bei der Grenzkontrolle keine Unähnlichkeit des Fotos mit dem Biologen auffiel, hatte er tatsächlich eine schwerverdiente Chance, durchzukommen.
Ich hielt mich jetzt hinter ihm.
Von Langeweile keine Rede mehr. Die Reststrecke nach Berlin wurde enervierend. Ich zählte jeden Kilometer einzeln mit, rechnete die Fahrzeitminuten bis zur Grenzkontrolle aus.
Acht Minuten noch, fünf, zwei.
Vor Dreilinden überholte ich die beiden Fahrzeuge vor mir und setzte mich direkt hinter den Opel.
Schrittempo. Stopp. Anfahren. Schrittempo weiter.
Wir wurden von greller Lautsprechermusik und Vopos mit umgehängten Kalaschnikow-Pistolen empfangen. Zehn, fünfzehn, viel zu viele; aber hier, wo zwei Transitstrecken zusammenkommen, herrscht immer Hochbetrieb.
Im übrigen treten Vopos selten allein auf. »Sie kommen immer zu zweit«, lautet eine der gängigen Redensarten. »Weil einer allein die acht Klassen Grundschule nicht zusammenbringt.«
Wie die meisten Witze war er maßlos übertrieben; selbst Abiturienten meldeten sich ›freiwillig‹ zur Volkspolizei, um hinterher die Genehmigung zu einem Studium zu erhalten.
Renate hielt unsere Pässe aufgeschlagen in der Hand.
Ich schloß ganz dicht zum Wagen Forbachs auf. Es geschah langsam, wie in Zeitlupe.
Der Opel wurde von Uniformierten umringt.
Sie schrien die beiden Insassen an. Sie mußten aussteigen und die Hände hochnehmen, das Entsetzen lief ihnen wie kochende Milch über die Gesichter, als ihre Taschen durchsucht wurden.
Ein Vopo setzte sich in den Wagen, brachte ihn weg.
Ein anderer winkte mich heran; er prüfte die Papiere längst nicht mehr so sorgfältig wie sonst üblich; er wollte die Augenzeugen der Verhaftung schnell loswerden.
Ich zögerte weniger aus Neugier – was festzustellen war, hatte ich ja gesehen –, sondern weil in meiner Lage wohl jeder Benutzer der Transitstrecke sich so benähme.
»Los, weiterfahren!« forderte mich ein Vopo auf.
»Was ist denn mit den beiden?« fragte ich.
»Das geht Sie nichts an«, erwiderte der Polizist. »Sie halten den Verkehr auf. Ich hab' doch gesagt, daß Sie weiterfahren sollen«, forderte er mich zum zweitenmal auf. »Hier gibt's nichts zu sehen. Überhaupt nichts.«
Das stimmte nicht. Es war die Verzweiflung zweier Menschen zu sehen, die im letzten Moment noch geschnappt worden waren und denen jetzt zehn bis fünfzehn Jahre Zuchthaus, wenn nicht gar die Höchststrafe Lebenslänglich drohte.
»Nun fahren Sie schon weiter, Mann!« fuhr mich der Grepo zum drittenmal an.
Ich legte den Gang ein, würgte den Motor ab und startete von neuem in das Niemandsland, die lange Schleuse zwischen dem DDR-Territorium und dem freien Berlin.
Mein Experiment war geglückt, wenn auch ganz anders verlaufen, als ich es erwartet hatte:
Erwin Forbach, der Mann, der auf so vielen Hochzeiten tanzte, war rehabilitiert, wenn auch um einen hohen Preis.
14
Das Berliner Zweigbüro der TRASCO lag in der Joachimstaler Straße nahe dem Bahnhof Zoo, etabliert in der zweiten Etage eines wuchtigen Geschäftshauses mit aufgesetzten Wohnetagen. Der Standort war in jeder Weise geschickt gewählt; das Büro lag zentral, im gleichen Gebäude befanden sich noch zwei kleine Privatpensionen, zwei Arztpraxen, drei Anwaltskanzleien und diverse andere Firmen. In diesem Haus herrschte von morgens bis abends reger Parteienverkehr, in dessen Strom
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