Die Nacht der Uebergaenge
werde mir deinen Rücken mal ansehen…
Und hübsch machen müssen wir uns auch noch!“, sagte sie leise und legte Nico
einen Arm um die schmalen Schultern.
Sie spürte die tiefgehende Erschöpfung, die Trauer und den Wunsch der jungen
Frau, sich irgendwo zu verkriechen. Leider nur für eine begrenzte Zeit, aber
etwas Ruhe würde ihr bestimmt schon helfen. Das Ritual war für sie alle
anstrengend gewesen. Es hatte ein paar Überraschungen zu viel
gegeben!
Deren Aufklärung und auch eine Entschuldigung von Nathan mussten noch eine
Weile warten. Der bekam keine Gelegenheit mehr, auf ihre Vorwürfe zu reagieren,
nur einen flammenden Blick über die Schulter zugesandt, kurz bevor sie mit Nico
aus dem Raum rauschte.
Anwesen der Familie Vijaya; South
Carolina, 1904
„Guten Morgen, Sonnenschein! Es ist ein wunderschöner Tag.“
Der Mann, der Wendy hierher gebracht, an sein Bett gefesselt und die Leiche
ihrer Mutter neben ihr verwesen ließ, lächelte so liebenswürdig, als wäre es
selbstverständlich, sie zu wecken, sie mit einem Kosenamen zu necken und vor
allem, nachdem er sich mehrmals an ihr vergangen hatte, zu sagen, was für ein
wunderschöner Tag da draußen war. Ein Tag, den sie sicher nicht überleben
würde.
-Wenn mein Vater dich in die Hände
bekommt, Winston, bist du des Todes!-
Wenigstens fand sie noch manchmal die Kraft für einen einzigen guten Gedanken,
den er zweifellos hören würde. Dieser Winston, ein nicht einmal sehr gut
aussehender jedoch höchst charmanter Mann, sah sie an, als hätte sie ihn
geohrfeigt. Er fuhr sich durch das, trotz seiner jungen Immaculate-Jahre, schon
lichter werdende Haar und fuhr sich über den fleckigen Stoff seiner einstmals
gelben Weste, die er jedes Mal trug, wenn er sie besuchte.
„WENDY, ICH VERBITTE MIR DIESEN TON! DEIN VATER DENKT, DU
WÄRST IN RUSSLAND MIT DEINER MUTTER. MORGEN WILL ER MIT DEINEM PATENONKEL UND
DAMON ARCUS MIT DEM SCHIFF ÜBERSETZEN, ALSO GLAUB JA NICHT, DASS ER SO SCHNELL
KOMMT.“
Ihr gelang nicht einmal ein Schluchzen. Ihr Vater war auf der
falschen Spur? Winston hatte sie gelegt? Sie würde nicht gerettet werden und
genauso sterben wie ihre Mutter? Warum ging das Ganze dann nicht ein bisschen
schneller? Warum konnte sie in diesem Punkt nicht auch ihrer Mutter ähnlich
sein, statt die unbewusste Stärke ihres Vaters zu besitzen, während dieser Mann
sie quälte?
Sie wusste es nicht und würde darauf auch keine Antwort erhalten.
Winston hatte gesagt, er würde sie lieben und ihrer Mutter dabei helfen, ihrem
Mann zu entkommen, der sie offenkundig nicht genug liebte, um ihnen statt
seiner Kriegerstellung in seinem Leben den ersten Platz zu geben. Natürlich tat
Winston das nicht. Aber Wendy war jung und ihre Mutter nur mehr als bereit,
Nathan Draco leiden zu lassen, indem sie ihm seine Familie nahm, die
selbstverständlich vor allem anderen kam.
Wendy selbst war leicht zu beeindrucken. Winston hatte ihr
geschmeichelt und er war schlau. So schlau, dass er das Blaue vom Himmel lügen
konnte, ohne dass man ihn dabei erwischte. Er war beim Militär gewesen wie ihr
Vater, den sie sehr bewunderte und auf den sie so unglaublich stolz war, da er zu
den Immaculate Kriegern gehörte. Er war ein Warrior, sie war nicht einmal
annähernd ein schwacher Abglanz seines Charakters und hatte ihm immer wieder
vor den Kopf gestoßen, in dem sie denen Vertrauen schenkte, die nicht gut für
sie waren. Allen voran ihrer eigenen Mutter.
Sie hatte sich von Winston dazu überreden lassen, durchzubrennen, statt ihre
Mutter nach Hause zu begleiten. Dabei war das schon seit Jahren aus der Mode
und ihre Mutter, die Winston wohlwissend von Wendy getrennt hatte, um seine
eigenen Spielchen mit ihr zu treiben, bereits tot.
„Heute war das allererste Mal ein Farbfoto in den Zeitungen.
Kannst du dir das vorstellen? Ein Farbfoto, fast so, als hätten sie es mit
Buntstiften nachgemalt, doch es war gedruckte... Ja, Wendy, gedruckte Farbe.“
Winston machte eine ausholende Geste mit seinen Armen, die Wendy in ihrer
gefesselten Lage zusammenzucken ließ, obwohl er ihr in diesem Augenblick nicht
einmal nahe war. Winstons Begeisterung bedeutete für sie niemals etwas Gutes.
„Die Technik heutzutage ist unglaublich. Demnächst erfinden sie auch noch einen
Kasten, in dem kleine Menschen herumlaufen und die gleichen Stücke spielen, die
sie im Theater zeigen.“
Er war vollkommen verrückt. „Magst du Theater, Wendy? Natürlich magst du das.
Du machst ja selbst gern
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