Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
Vom Netzwerk:
war.
    Diesmal verzichteten sie auf die Abkürzung über den Norton Sound, doch als sie an der Yupik-Siedlung vorbeikamen, stand der Häuptling mitten auf dem Trail, beide Hände erhoben, und schien genau zu wissen, wer ihm auf dem Schlitten entgegenkam. Clarissa bremste die Hunde mit einem lauten »Whoaa!« und sah ihn neugierig an. »Es ist spät, Großvater«, wählte sie die respektvolle Anrede. »Warum liegst du nicht in deinem Bett und schläfst?«
    Das Lächeln des alten Mannes war selbst in der Dunkelheit zu sehen. »Ich wusste, dass ihr kommen würdet. Ihr habt den weißen Mann nicht gefunden.«
    »Es war wohl doch nur ein Traum«, erwiderte Clarissa.
    »Ich wollte, es wäre anders.« Der Häuptling zeigte sein ehrliches Bedauern, indem er eine Hand auf sein Herz legte. »Manchmal zeigen uns unsere Träume auch Bilder, die nur den Anfang einer Geschichte zeigen. Dann ist die Erkenntnis, dass die Geschichte ein böses Ende genommen hat, besonders schmerzhaft. So war es bei dir, nicht wahr?« Er blickte Clarissa in die Augen.
    »Ja, so war es bei mir. Ich danke dir für dein Mitgefühl, Großvater.«
    »Lebt wohl. Und seid wachsam, der Weg ist voller Gefahren.«
    Clarissa bedankte sich noch einmal und wartete, bis der Häuptling gegangen war, bevor sie die Huskys antrieb. »Ein kluger Mann«, hörte sie Dolly sagen. »Manchmal wünschte ich, diese Dummköpfe, die ständig über die ›dummen und heidnischen Wilden‹ schimpfen, könnten Männer wie ihn hören. Viele dieser Wilden haben doch mehr Grips im Kopf als einige dieser weißen Klugscheißer, die glauben, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben.« Sie drehte sich mit grimmigem Gesichtsausdruck zu ihr um. »Du bist doch okay?«
    »Ich bin okay«, antwortete Clarissa.
    »Und du freust dich auf unser gemeinsames Roadhouse?«
    »Ich werde mir den Arsch abarbeiten«, ahmte sie die Freundin nach.
    Dolly nickte zufrieden. »Ich wusste doch, dass du stark genug bist. Wer jahrelang in der Wildnis lebt, lässt sich nicht so leicht unterkriegen, was? Du wirst sehen, von uns wird man noch in hundert Jahren sprechen. Die beiden Frauen, deren Männer zu früh gestorben sind und die es allen gezeigt haben.«
    »Und die Frau, die das Alaska Frontier Race gewonnen hat.«
    »Du willst da wirklich mitmachen?«
    »Ich will nicht nur mitmachen … Ich will gewinnen!«
    Dolly grinste. »Und ich hänge dann ein großes Schild über den Eingang zu unserem Blockhaus: ›Hier kocht und bedient ein Champion.‹ Nicht übel, was? Das bringt uns noch mehr Kunden, als wir gedacht haben.« Sie überlegte eine Weile und drehte sich plötzlich noch einmal begeistert um: »Oder wir machen beide bei dem Rennen mit und gehen gemeinsam durchs Ziel … als Erste und Zweite … Dann kochen und bedienen gleich zwei Champions. Noch besser!«
    Clarissa war nicht so optimistisch wie ihre Freundin. Sie wusste weder, ob sie erfolgreich beim Alaska Frontier Race abschneiden würde, noch wie ihr die Arbeit im Roadhouse gefallen würde. Sie hatte nach dem Tod ihrer Eltern lange genug als Haushälterin gearbeitet und verstand etwas von der Arbeit, die dort verlangt wurde, wusste aber nicht, wie sie auf die vielen Gäste reagieren würde, die Dolly anscheinend anstrebte. Gerade jetzt, nach dem Verlust ihres geliebten Mannes, wäre sie lieber allein mit ihren Huskys gewesen.
    Aber sie würde die Herausforderung annehmen, schon allein, um ihre Schulden bei Dolly zu bezahlen. Und weil sie nicht in Selbstmitleid versinken und Tag und Nacht um ihren toten Mann weinen wollte. Sie würde sich in die Arbeit retten, wie sie es nach dem Tod ihrer Eltern getan hatte und wie es sich wahrscheinlich auch Alex im Himmel wünschte. Und wenn der Kummer zu groß wurde, würde sie auf ihren Schlitten springen und durch die Wildnis fahren, bis sie erschöpft vom Trittbrett sank. Irgendwann einmal ließen die Schmerzen nach, so wie bei ihrer Freundin, das hoffte sie jedenfalls.
    Sie waren schon hinter Fort St. Michaels und fuhren unterhalb des steilen Ufers über den Yukon River, als der Schuss krachte. Die Kugel zischte über sie hinweg und streifte Charly, den Husky, der links hinter Emmett lief, und warf ihn zu Boden. Das Echo des Schusses verklang über dem breiten Fluss.
    Clarissa war für einen Augenblick so erschocken, dass sie zu keiner Bewegung fähig war. Dolly duckte sich, als wäre sie dadurch gegen den geheimnisvollen Schützen gewappnet. Nur Emmett reagierte sofort, wandte sich instinktiv nach rechts und

Weitere Kostenlose Bücher