Die Nacht der Wölfe
Whittler und seine Kumpan auf ihn schossen und ihn verletzten oder töteten, raubte ihr beinahe den Verstand.
Noch einen Schicksalsschlag hatten sie nicht verdient. Die Prüfung, die man ihnen auferlegt hatte, war schwer genug gewesen, und Gott konnte nicht so ungerecht sein, sie noch einmal durch die Hölle zu schicken. Denn so hatte sie die lange Trennung von ihrem Mann und die Angst um sein Wohlergehen empfunden, als Höllenfeuer, das sie beinahe vernichtet hätte. Nur ihrem unerschütterlichen Glauben an eine gemeinsame Zukunft hatte sie das Wiedersehen mit ihm zu verdanken, ihrem Gottvertrauen und einigen Freunden, die sie immer wieder aufgerichtet und ihr Mut zugesprochen hatten, aber einen zweiten Schicksalsschlag würde sie kaum meistern, dazu fehlte auch ihr die Kraft.
Sie tröstete sich damit, dass der Wolf vielleicht etwas ganz anderes gemeint hatte, vielleicht sogar seinen eigenen Tod, denn er musste älter und schwächer sein, als es den Anschein hatte. Vielleicht galt seine Angst dem eigenen Schicksal, und er wollte sich nur von Clarissa verabschieden. Sie versuchte, sich wieder auf den Schlitten zu konzentrieren, hielt ihr Gesicht in den Fahrtwind, um auf andere Gedanken zu kommen, und feuerte die Hunde an, die gespürt hatten, dass sie mit ihren Gedanken woanders war, und sich kaum noch angestrengt hatten. »Heya! Nur keine Müdigkeit vortäuschen, Buster!«
Sie erreichten Fairbanks am frühen Nachmittag, folgten dem Trail, der vom zugefrorenen Chena River auf die Hauptstraße führte, und fuhren im gemächlichen Tempo an den Häusern, Baracken und Zelten entlang. Clarissa war lange nicht mehr in Fairbanks gewesen und staunte darüber, wie rapide die Stadt während der letzten Wochen gewachsen war. Um Barnette’s Trading Post, den alten Handelsposten, waren zahlreiche neue Gebäude entstanden, ein Hotel, zwei Geschäftshäuser mit einem Gemischtwarenladen und einer Wäscherei, ein Restaurant und ein Gebäude mit der Redaktion der Weekly Fairbanks News, der neuen Zeitung, die vorerst wöchentlich erschien.
»Mein Gott, so groß hatte ich Fairbanks gar nicht in Erinnerung!«, staunte Clarissa, als sie die Hauptstraße erreichten. Sie ließ ihren Blick über die Häuser und die unendlich vielen Baracken und Zelte schweifen. »Das müssen über tausend Einwohner sein. Wenn das so weitergeht, wird’s hier bald so zugehen wie damals in Skaguay, als Gold am Klondike gefunden wurde!«
Betty-Sue zeigte sich wenig beeindruckt. »Da sollten Sie mal nach San Francisco kommen. Gegen Frisco ist Fairbanks ein winziges Indianerdorf!«
Clarissa wich einem Fuhrwerk aus, dessen Kutscher in übelster Weise über die »verdammten Köter« schimpfte, bis er erkannte, dass eine Frau auf dem Trittbrett stand, und ein »Verdammt … sorry!« hinterherschickte. Sie hielt vor dem Handelsposten. Vor dem Eingang standen E.T. Barnette, der Besitzer, und Doc Boone und unterhielten sich aufgeregt. Barnette war ein schlanker Mann um die Vierzig und trug eine karierte Holzfällerjacke. Doc Boone hatte sich in einen schwarz glänzenden Pelzmantel gehüllt. »Jetzt gibt’s kein Pardon mehr!«, schimpfte der Doktor gerade. »Jetzt erwartet sie der …« Er hielt mitten im Satz inne, als er Clarissa vom Schlitten steigen sah, und rief: »Ah … Clarissa, Schwester Betty-Sue … Da sind Sie ja endlich! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Am besten fahren Sie gleich weiter zum Krankenhaus. Es sind alle Betten belegt, und meine Frau kommt kaum mit der Arbeit nach.«
»Ich ziehe mich nur um«, erwiderte Betty-Sue gehorsam.
»Wo waren Sie denn so lange?«, wollte der Doktor wissen. »Ich hatte gehofft, Sie kämen vielleicht einen Tag eher. Gab’s so viel Arbeit da draußen?«
Betty-Sue schälte sich lachend aus ihren Decken. »So hektisch ging es nicht mal in der Notaufnahme des Golden Gate zu. Sogar einen Weisheitszahn musste ich ziehen. Sie glauben gar nicht, wie wehleidig erwachsene Männer sein können.« Ihre Miene wurde ernst. »Um die Indianer mache ich mir allerdings echte Sorgen. Ihre Abwehrkräfte sind zu schwach. Anscheinend sind sie gegen einige Krankheiten, die bei uns gang und gäbe sind, nicht gefeit. Besonders die Kinder machen mir einen schwachen Eindruck. Wir sollten vielleicht öfter nach ihnen sehen und mehr Impfungen durchführen.«
»Das wird leider nicht möglich sein.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie verwundert.
Der Doktor schien nicht zu wissen, wie er ihr am besten antworten sollte. »Das können
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