Die Nacht der Wölfe
gegen den helleren Himmel ab. Das Indianerdorf lag still und verlassen am Flussufer, nur die Huskys zwischen den Blockhütten und Baracken meldeten sich plötzlich und stimmten ein Jaulkonzert an.
Ihr Schlitten war noch nicht zum Stehen gekommen, als Henry Eagle aus einem der Blockhäuser trat. Er trug Stiefel und hatte sich in eine Wolldecke gehüllt. In der rechten Hand hielt er ein Gewehr. »Mrs Carmack!«, rief er überrascht. Er ließ die Hand mit dem Gewehr sinken. »Was ist passiert?«
»Ist Schwester Betty-Sue hier?«
»Die Schwester? Nein … wieso?«
»Dann ist sie wohl in einem anderen Dorf. Wie geht es Louise?«
»Sie ist schon fast wieder gesund«, antwortete der Indianer. »Wir sind der Schwester sehr dankbar. Ist sie in Schwierigkeiten? Hat sie sich verirrt?«
»Kein Grund zur Sorge«, beruhigte sie den Indianer. »Sie wollte in einem der Indianerdörfer vorbeifahren, und wir wussten nicht, welches sie meinte. Tut mir leid, wenn ich eure Leute geweckt habe. Grüßen Sie Louise von mir.«
»Danke, aber wollen Sie nicht …«
»Ich muss weiter. Vielen Dank.«
Sie fuhr durch das Dorf hindurch und am Bachufer entlang nach Osten. Durch den teilweise noch klaren Himmel war der Trail besser zu erkennen als beim letzten Mal, und die Hunde konnten ein schärferes Tempo gehen. Das Nordlicht, ein halber Mond und die Sterne tauchten den Schnee in geisterhaftes Licht. Wenige Schneeflocken wehten ihr entgegen, nur auf den Hügelkämmen wehte der Wind stärker und trieb ihr feuchte Schleier ins Gesicht.
Normalerweise hätte sie eine solche Fahrt genossen. Das bunte Schimmern auf den Berghängen, die eisige Luft, der singende Wind, das Scharren der Kufen im Schnee, hier draußen war man der Natur näher als irgendwo sonst. Selbst auf dem Meer hatte sie sich nicht so glücklich und unbeschwert gefühlt wie in der verschneiten Wildnis von Alaska. Näher konnte man der Schöpfung nicht kommen, selbst die ersten Menschen hatten die Natur nicht so urwüchsig und ungestüm erlebt. Deshalb war sie hier, hier lag ihr Paradies.
Doch mit dem schmerzlichen Verlust, den sie zu ertragen hatte, wurde auch die Fahrt durch diese Natur zur Qual. Wie ein schweres Gewicht lastete der Schmerz über den Tod ihres Mannes auf ihren Schultern, und die Vorstellung, dass sein Leichnam in der Dunkelheit einer abgrundtiefen Felsspalte lag, raubte ihr fast den Verstand. Sie hätte ihn wenigstens noch mal in die Arme nehmen, ihn auf den Mund küssen wollen, auch wenn seine Lippen inzwischen kalt waren und seine Seele längst in den Himmel gewandert war. Ihr Blick wanderte über die Hunde hinweg in die Ferne, verlor sich in dem Nordlicht, das allmählich am östlichen Himmel verblasste. »Alex!«, flüsterte sie sanft. »Ich werde dich immer lieben, Alex! Über den Tod hinaus!«
Ein loser Ast, der auf den Hügel getrieben worden war, unter die Kufen ihres Schlittens geriet und sie fast vom Trittbrett schleuderte, riss sie aus ihren Gedanken. Sie ging tief in die Knie und klammerte sich mit beiden Händen an die Haltestange, bekam den Schlitten gerade noch unter Kontrolle und in die Spur zurück. »Vorwärts, Emmett!«, rief sie in den Fahrtwind, auch um sich selbst anzutreiben und daran zu hindern, in Selbstmitleid zu versinken.
Das Nordlicht war erloschen, und dunkle Wolken hatten den Mond und die Sterne verdrängt, als sie das Dorf am White Creek erreichte. Sie war sicher, Betty-Sue im einzigen Blockhaus zu finden, in den Armen des jungen Mannes, den sie bei ihrem ersten Besuch zwischen den Bäumen geküsst hatte. Matthew war ein geläufiger Name, doch Betty-Sue gefährdete durch eine Beziehung mit einem Indianer ihre Arbeit, ihren Ruf und ihre Zukunft. In Vancouver hatte sie über eine weiße Lehrerin gelesen, die einen studierten Indianer geheiratet hatte. Keine zehn Jahre war das her. Wenn sie sich recht erinnerte, waren die beiden gezwungen gewesen, an die Ostküste zu ziehen, wo man einer solchen Beziehung etwas offener gegenüberstand, und selbst dort mussten sie zahlreiche Schwierigkeiten überwinden. Hier in Alaska hielt man die Indianer für unzivilisierte Wilde, die man zwar duldete, weil sie in ihren Reservaten und abseits der weißen Siedlungen niemand störten, aber niemals in der Familie akzeptieren würde. In Vancouver waren die reichen Leute sogar gegen Spanier und Portugiesen gewesen.
Wie in dem anderen Indianerdorf kündigten auch hier die Huskys ihr Kommen an. Sie bremste den Schlitten, verankerte ihn im Schnee
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