Die Nacht der Wölfe
gezogen worden. Clarissa erinnerte sich noch genau daran, wie verzweifelt Dolly damals gewesen war, wie sie beim Anblick ihres toten Mannes geschrien hatte und in den Tiefschnee geflüchtet war. Niemand hatte damals geglaubt, dass sie jemals wieder auf die Beine kommen würde, und doch hatte sie sich schneller von dem schweren Schicksalsschlag erholt als erwartet und war beinahe trotzig in eine neue Zukunft aufgebrochen, auf sich allein gestellt und ohne eine Ahnung von den Gefahren der Wildnis zu haben.
Clarissa hatte ihr damals über den ersten Schmerz hinweggeholfen und sie getröstet, und sie hatte sich während dieser Zeit oft gefragt, ob sie wohl stark genug wäre, um über einen so schweren Verlust hinwegzukommen. Sie wusste es auch jetzt noch nicht, etwas mehr als einen Tag, nachdem Alex’ Tod zur Gewissheit geworden war. Vor der Felsspalte, als Matthew die Fackel in die Tiefe geworfen hatte, wäre sie am liebsten mit in die ewige Dunkelheit gestürzt: den Schmerz vergessen, den Ring sprengen, der sich immer enger um ihre Brust zusammenzog, und darauf hoffen, dass sie Alex im Jenseits wiederfand. Auf der anderen Seite, wie die Indianer sagten, wo das Wild zahlreicher und das Gras grüner waren und es nur noch zufriedene Menschen gab.
Sie hatte diesen Impuls erfolgreich bekämpft und mit ihren Tränen erstickt, war aufgestanden und hatte mit ihren Hunden den Heimweg angetreten, fest entschlossen, den schrecklichen Verlust zu überwinden und sich eine neue Zukunft aufzubauen. Das Alaska Frontier Race gewinnen, oder zumindest als Zweite oder Dritte die Ziellinie überqueren, weil sie wusste, wie stolz Alex auf ihre Leistung gewesen wäre, und dann sah man weiter. Irgendwie würde sie es schaffen, ihre Schulden zu bezahlen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, auch wenn immer die Gefahr bestand, dass die Wunde, die Alex’ Tod gerissen hatte, wieder aufbrach und sie zum Aufgeben zwang. Es gab Menschen, die nie über den Tod ihres Partners hinwegkamen.
»In Dawson hätte ich es keinen Tag länger ausgehalten«, drangen Dollys Worte in ihr Bewusstsein. Sie hob den Kopf und blickte sie etwas verwirrt an. »Du glaubst nicht, wie viele Angeber sich dort rumtreiben. Und alle denken, sie könnten einer jungen Frau wie mir auf die Pelle rücken. Einer fand meine Haare toll, obwohl ich sie zu einem langweiligen Knoten gebunden hatte, ein anderer fand meine Lippen so verlockend, dass er mich mitten im Lokal küssen wollte, und der Goldsucher, von dem ich die Schokolade habe, fand meinen englischen Akzent … mir fällt das blöde Wort zum Glück nicht mehr ein.«
»Und du bist bei keinem schwach geworden?«
»Irgendwann gingen sie mir alle auf die Nerven.« Dolly steckte sich einen Schokokeks in den Mund und kaute eine Weile. »Besonders dieser Saloonbesitzer, der mich unbedingt heiraten wollte. Der kam jeden Tag mit einem Geschenk vorbei und warf sich in den Staub vor mir, dabei arbeiteten zwanzig hübsche Mädchen in seinem Saloon, und glaub bloß nicht, dass er die einstellte, ohne sich von der Qualität seiner Schäfchen zu überzeugen. Seine ›Schäfchen‹, so nannte er die Mädchen. Die jüngste war vierzehn. Mich wollte er als anständige Vorzeigefrau, als geachtete Bürgerin, die nicht in einem bunten Fummel herumlief und die man auch ins Theater oder auf einen Ball mitnehmen konnte. Aber für so was bin ich nicht zu haben. Nicht dass Luther was dagegen hätte, dass ich wieder heirate, das glaube ich nicht mal, aber wenn ich mit Hugo, so hieß er tatsächlich, wenn ich mit Hugo vor den Friedensrichter getreten wäre, hätte er sich ein paar mal im Grab herumgedreht.« Sie trank einen Schluck und grinste übers ganze Gesicht. »Wenigstens hab ich ihn noch ordentlich bluten lassen. Ich hab ihm das Roadhouse verkauft, weißt du, damit er wenigstens etwas hat, das ihn an mich erinnert. Dass man in das alte Blockhaus ordentlich investieren muss, hat er wohl erst jetzt gemerkt.«
»Du hast ihn übers Ohr gehauen.«
Ihr Grinsen wurde noch breiter. »Ich habe ihn für die Frechheit büßen lassen, die er sich mir gegenüber erlaubt hat. Gegen die Goldsucher hab ich nichts, die waren meist betrunken, als sie ihre blöden Komplimente bei mir abluden, aber dieser Hugo war gefährlich. Ein mieser Kerl, der nur an sein Geschäft dachte und dafür über Leichen ging. Irgendwann jagt ihm eines seiner Mädchen eine Kugel in den Kopf, und keiner weint ihm eine Träne nach.«
»Solche Männer gibt es in jeder
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