Die Nacht der Wölfe
ich, was wohl aus unserer Ehe geworden wäre. In England sagen sie, dass eine solche Ehe nur mit Mord und Totschlag enden kann, und in Irland … Davon will ich gar nicht reden. Vielleicht hatte der Herrgott sogar ein Einsehen, als er mir Luther nahm. Wer weiß, was wir uns alles angetan hätten …«
»Das glaubst du doch nicht im Ernst.«
Dolly lachte. »Natürlich nicht! Er war der beste Mann, den man sich vorstellen kann. Klar blickte er alle paar Wochen zu tief ins Glas, das tun alle Männer von der Insel, und man würde einen Iren, bei dem es anders wäre, wahrscheinlich einsperren, aber wir hätten uns nie gestritten, es sei denn …«
»Es sei denn?«
»Er hätte mir nichts von seinem Bier abgegeben.« Sie öffnete lachend die Tür. »Wie ich ihn kenne, würde er auch jetzt vor dem Schlafengehen ein dunkles Bier oder einen Whiskey trinken, aber ich hab was Besseres für uns. Etwas ganz Besonderes, das gibt es nicht mal in San Francisco oder New York, und wenn, muss man wahrscheinlich tagelang danach suchen.« Sie stellte die leeren Eimer neben die Kommode und kramte ein Päckchen aus ihrem Vorratssack. »Schweizer Schokolade! Ein Goldgräber aus der Schweiz hat sie mir geschenkt, weil ich ihm jeden Abend einen Extraschlag von meinem Elcheintopf gegeben habe. Sprüngli …« Sie konnte das schwierige Wort kaum aussprechen. »So heißt die Firma, die sie herstellt. Na, was sagst du?«
Clarissa betrachtete das Päckchen mit der geschwungenen Schrift und roch daran. »Riecht gut … fehlt nur noch ein Becher mit gutem englischen Tee.«
Dolly holte ein weiteres Päckchen aus ihrem Vorratssack. »Tataa!«
Die Schokolade schmeckte himmlisch, und zu einem guten englischen Tee fehlte nur noch frische Milch. »Kondensmilch ist was für Leute vom Festland und … Amerikaner«, lästerte Dolly, »die würde ein Engländer niemals in seinen Tee gießen. Du wirst lachen, in Dawson gibt es frische Milch … auch Eier. Aber der Verrückte mit der Kuh und den Hühnern verlangt ein Vermögen dafür. Was die Leute nicht daran hindert, jeden Morgen Schlange zu stehen. Aber wer weiß, vielleicht sind Clara und die Hühner inzwischen erfroren …«
Clarissa schämte sich beinahe, einen Teller mit ihren Schokokeksen dazuzustellen, aber das war die einzige Möglichkeit, sie beide daran zu hindern, die ganze Tafel Schokolade aufzuessen. Zum ersten Mal, seitdem sie die Felsspalte gesehen hatte, in die ihr Mann gestürzt war, fühlte sie, wie ein wenig von ihrem inneren Frieden zurückkehrte, zumindest für ein paar Stunden. Ganz würde sie sich wohl nie von seinem Tod erholen. Aber auch die Albträume blieben in dieser Nacht aus, und sie wachte erholt und ausgeschlafen auf.
Beim Frühstück, nachdem beide ihre Hunde gefüttert hatten, sagte Dolly unvermittelt: »Ich gehe nicht mehr nach Dawson zurück. Ich hab das Roadhouse verkauft.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und blickte sie zweifelnd an. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich in deine Gegend komme?«
»Natürlich nicht! Ich freue mich, Dolly! Was ist passiert?«
»Dawson City ist mal wieder abgebrannt … Nun ja, ein Teil von Dawson. Wenn ich ehrlich bin, wurde es auch höchste Zeit, dass die Häuser von der Bildfläche verschwinden. In Dawson brennt es alle paar Wochen, und ich gehe jede Wette ein, dass die Stadt irgendwann ganz abbrennt. So lange wollte ich auf keinen Fall warten. Für mich war das Feuer ein Signal. Mit Dawson und den Goldfeldern am Klondike geht es zu Ende. Viele Goldgräber sind bereits nach Fairbanks und Nome abgewandert, besonders nach Nome, da sollen die Goldkörner am Strand herumliegen. Zeit für mich, aus Dawson zu verschwinden. Außerdem hatte ich Sehnsucht nach deinen Schokoladenkeksen. Diese Schweizer Schokolade war eine einmalige Sache, die kriege ich so schnell nicht wieder, es sei denn, ich ziehe nach San Francisco oder Chicago oder New York um, und bevor das passiert, heirate ich noch mal einen Iren …«
Clarissa blickte wehmütig in ihren Becher und glaubte das Bild des toten Luther in ihrem Tee zu sehen, wie er blutverschmiert auf einem verschneiten Hang lag, ermordet von den Handlangern eines gewissen Soapy Smith, der mit seiner Verbrecherbande ahnungslose Goldsucher ausnahm und sogar den US Deputy Marshal auf seiner Lohnliste stehen hatte. Er hatte nichts gegen die Mörder des Iren unternommen, und erst als der Anführer der Bürgerwehr den Verbrecherkönig erschossen hatte, waren auch seine Handlanger zur Verantwortung
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