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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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Anwendbarkeit betraf, gehörte er allerdings in die gleiche Kategorie wie der Ratschlag an einen Menschen mit Höhenangst, einfach nicht nach unten zu sehen.
    Als ich nach meiner Wandlung aus dem Dickicht kam, wartete Clay bereits auf mich. Er trat mit zuckender Nase zurück. Dann öffnete sich sein Maul, und die Zunge kam zu einem Wolfsgrinsen hervor, als hätten wir nie gestritten. Ich suchte nach meinem eigenen Ärger, konnte ihn aber nicht finden – als hätte ich ihn in dem Dickicht bei meinen abgelegten Kleidern liegen gelassen.
    Nach ein paar Minuten begannen wir zu rennen – Clay und ich schubsten und balgten uns um die Führung, Nick gab sich damit zufrieden, uns auf den Fersen zu bleiben. Der Wald war voller Gerüche, darunter auch der Moschusduft von Hirschen, aber das meiste davon waren alte Spuren und längst vertrocknete Duftmarken. Wir waren eine halbe Meile weit gekommen, bevor ich den Geruch auffing, nach dem wir gesucht hatten – Hirsch und frisch. Ich schoss mit erneuerter Energie voran. Hinter mir rannten Nick und Clay fast lautlos durch den Wald. Nur das Rascheln von toten Zweigen unter ihren Füßen verriet sie. Dann sprang der Wind um und trieb uns den Hirschgeruch mitten ins Gesicht. Nick kläffte und holte auf, versuchte die Führung zu übernehmen. Ich schnappte nach ihm und erwischte ein Büschel dunklen Pelz, als er sich außer Reichweite rettete.
    Dann stellte ich fest, dass Clay nicht mehr hinter uns war. Ich wurde langsamer, kehrte um und lief zurück. Er stand etwa sechs Meter entfernt; seine Nase zuckte, als er in den Luftzug schnupperte. Als ich angesprungen kam, fing ich seinen Blick auf und wusste, weshalb er innegehalten hatte. Wir waren nah genug. Es wurde Zeit für einen Plan. Es mag albern klingen, dass wir Hirsche als gefährlich betrachten, aber wir sind keine menschlichen Jäger, die nie näher als bis auf dreißig Meter an die Beute herankommen. Ein Geweihstoß kann einem Wolf den Bauch aufreißen. Ein gut gezielter Huf kann ihm den Schädel spalten. Clay hatte eine dreißig Zentimeter lange Narbe am Oberschenkel, dort, wo ein Huf ihm die Flanke aufgeschlitzt hatte. Selbst echte Wölfe wissen, dass eine Hirschjagd Umsicht und sorgfältige Planung verlangt.
    Planung hieß in diesem Fall natürlich nicht, die Sachlage zu besprechen. Aber wir hatten etwas Besseres: unseren Instinkt und ein Gehirn, in das die Muster eingeschrieben waren, die sich seit Tausenden von Generationen bewährt hatten. Wir konnten die Situation abschätzen, uns an eine Vorgehensweise erinnern und uns mit einem Blick über sie verständigen. Zumindest Clay und ich konnten es. Wie viele Werwölfe war Nick entweder nicht vollständig auf die Nachrichten eingestellt, die sein Wolfshirn ihm sandte, oder sein menschliches Gehirn traute ihnen nicht. Es machte nichts. Clay und ich waren im Augenblick das Alphapaar; Nick würde unseren Anweisungen folgen, ohne eine Erklärung zu brauchen.
    Ich tat ein paar Schritte nach Osten, schnupperte in der Luft herum und fand den Geruch des Hirsches wieder. Ein einzelner Bulle. Das bedeutete, dass wir uns keine Gedanken darüber zu machen brauchten, wie wir ein Tier von einer Herde isolieren konnten. Andererseits war ein Bulle gefährlicher als eine Kuh, vor allem einer mit voll ausgebildetem Geweih. Clay schob sich neben mich, schnupperte und warf mir einen Blick zu, der sagte: Was soll's, man lebt nur einmal. Ich schnaubte zustimmend und kehrte zu Nick zurück. Clay folgte mir nicht. Er schlüpfte wieder ins Dickicht und verschwand. Der Plan war fertig.
    Nick und ich schlugen einen Bogen durch den Wald, um aus der Windrichtung zu kommen, bevor wir die Witterung wieder aufnahmen. Wir trafen den Hirsch grasend in einem Dickicht an. Während er auf das Signal wartete, stieß Nick mich an und rieb sich an mir und winselte, zu leise, als dass der Bulle es hätte hören können. Ich knurrte leise, und er hörte auf damit. Der Hirsch hob den Kopf und sah sich um. Als er wieder zu äsen begann, duckte ich mich und sprang. Der Hirsch brauchte nur einen Sekundenbruchteil, bevor er über die Büsche sprang und in Galopp fiel. Nick und ich stürmten hinterher, aber der Abstand vergrößerte sich. Wölfe sind Langstreckenläufer, keine Sprinter, und unsere einzige Chance, flüchtendes Wild einzuholen, besteht darin, es zu ermüden.
    Wie so häufig machte der Hirsch den Fehler, seine Energie auf den Anfangsspurt zu verwenden. Wir waren noch nicht weit gekommen, als er langsamer

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