Die Nacht der Wölfin
die den Drang zu töten unterdrücken konnten, diejenigen, die es nicht konnten, und diejenigen, die sich nicht die Mühe machten, es zu versuchen. Nach dem Verhalten unseres Mutts zu urteilen gehörte er in die dritte Kategorie. Das schränkte die Auswahl ein, von siebenundzwanzig auf etwa zwanzig.
Ich nahm mir die Schrankfächer unter den Bücherbrettern vor. Ich öffnete das Zweite davon, räumte eine Schneise zwischen den Brandygläsern frei und tastete an der Rückwand nach dem vorstehenden hölzernen Nagel. Als ich ihn gefunden hatte, drehte ich ihn, und das Brett schnappte auseinander. In dem Geheimfach dahinter bewahrten wir die beiden einzigen prekären Gegenstände in Stonehaven auf, die einzigen Dinge, die verraten konnten, was wir waren. Das eine davon war meine Sammlung von Dossiers. Die allerdings war nicht da. Ich seufzte. Nur Jeremy konnte sie herausgenommen haben, und der war vor einer Stunde zu einem Spaziergang aufgebrochen. Ich konnte mich natürlich auf die Suche nach ihm machen, aber ich wusste, dass es ihm nicht nur um die frische Luft gegangen war; er überlegte sich die letzten Einzelheiten für unsere Jagd, und Störungen waren mit Sicherheit nicht erwünscht.
Als ich das Fach wieder schloss, sah ich das zweite Buch dort liegen, holte es in einer spontanen Laune heraus und öffnete es, obwohl ich es schon so oft gelesen hatte, dass ich es seitenweise aus dem Gedächtnis aufsagen konnte. Als Jeremy mir zum ersten Mal von dem Vermächtnis erzählte, hatte ich eine muffige, stinkende, halb verrottete Schwarte zu sehen erwartet. Tatsächlich jedoch war das jahrhundertealte Buch besser erhalten als meine Bücher aus der Collegebibliothek. Natürlich waren seine Seiten vergilbt und brüchig, aber jeder Alpha hatte es in einem besonderen Fach aufbewahrt, geschützt vor Staub, Schimmel, Licht und allem anderen, das Büchern schaden konnte.
Das Vermächtnis gab vor, die Geschichte der Werwölfe zu erzählen, vor allem die des Rudels, aber es war keine reine Sammlung von Daten und Ereignissen. Stattdessen hatte jeder Alpha hinzugefügt, was immer er für wichtig hielt, und das Ergebnis war ein Mischmasch aus Geschichte, Genealogie und Tratsch.
Ein Kapitel befasste sich ausschließlich mit wissenschaftlichen Experimenten über die Natur und die natürlichen Grenzen des Werwolfwesens. So war während der Renaissance ein Alpha vollkommen fasziniert gewesen von Legenden über die Unsterblichkeit von Werwölfen. Er hatte jede davon ausführlich dokumentiert, von den Erzählungen über Werwölfe, die unsterblich geworden waren, nachdem sie das Blut kleiner Kinder getrunken hatten, bis hin zu Werwölfen, die nach ihrem Tod Vampire geworden waren. Danach hatte er mit einer Reihe von geradezu unter Laborbedingungen durchgeführten Experimenten begonnen. Er verwendete zu diesem Zweck Mutts, die er einfing, präparierte und dann tötete, um auf ihre Wiederauferstehung zu warten. Keins der Experimente war jemals geglückt, aber er hatte bemerkenswerte Erfolge dabei erzielt, den europäischen Muttbestand zu dezimieren.
Ein Jahrhundert später entwickelte ein anderer Alpha die Obsession, sich den bestmöglichen Sex zu verschaffen – wobei das einzig Überraschende daran war, dass es ein paar hundert Jahre gedauert hatte, bis jemand auf die Idee kam. Er war von der Hypothese ausgegangen, dass Sex zwischen Menschen und Werwölfen seiner Natur nach unbefriedigend war, weil es sich um zwei verschiedene Spezies handelte. Also biss er zunächst ein paar Frauen. Als sie es nicht überlebten, schloss er daraus, dass die Gerüchte über weibliche Werwölfe im Lauf der Jahrhunderte keinerlei Grundlage in der Wirklichkeit hatten und dass derlei biologisch unmöglich war. In der Folge probierte er Variationen in beiden Gestalten – als Wolf und Mensch, mit normalen Wölfen und mit Menschen. Nichts kam an altmodischen zwischenmenschlichen Sex in menschlicher Gestalt heran, und so wandte er sich wieder Frauen zu und begann mit verschiedenen Positionen, Techniken, Schauplätzen und so weiter zu experimentieren. Schließlich entdeckte er den Akt der höchsten sexuellen Befriedigung – zu warten, bis sich der Höhepunkt ankündigte, und seiner Partnerin dann die Kehle durchzubeißen. Er beschrieb sein Rezept lebhaft und detailliert mit der ganzen wortreichen Begeisterung eines Frischbekehrten. Glücklicherweise gewann die Methode innerhalb des Rudels nie Anhänger, vermutlich weil der Alpha ein paar Monate später auf dem
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