Die Nacht der Wölfin
körperlicher Bestform befinden und im Naturzustand wirklich kein unerfreulicher Anblick sind. Aber ich schweife ab. Worauf ich hinauswill, ist, dass Jeremy mit dem Anblick meines nackten Körpers seit Jahren vertraut war. Als ich in Abwesenheit meiner Kleider aus dem Wald trat, fiel ihm nicht einmal auf, dass etwas fehlte.
Er faltete die Zeitung zusammen, stand von seinem Liegestuhl auf und wartete. Ich hob das Kinn und machte mich auf den Weg zur Terrasse. Er würde Clay an mir riechen können. Es gab keine Möglichkeit, das zu verhindern.
»Ich bin müde«, sagte ich, während ich versuchte, mich an ihm vorbeizudrücken. »Es war eine ziemlich lange Nacht. Ich gehe wieder ins Bett.«
»Ich wüsste wirklich gern, was ihr gestern Abend herausgefunden habt.«
Die Stimme war sanft. Eine Bitte, kein Befehl. Einen direkten Befehl zu ignorieren wäre einfacher gewesen. Als ich da stand, erschien mir die Aussicht darauf, ins Bett zu gehen und dort mit meinen Gedanken allein zu sein, plötzlich unerträglich. Jeremy bot mir eine Ablenkung an. Ich beschloss das Angebot anzunehmen. Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und erzählte ihm die ganze Geschichte. Okay, zugegeben, es war nicht die ganze Geschichte, aber ich erzählte ihm, wie wir die Wohnung des Mutts gefunden hatten. Das Nachspiel mit den beiden Jungen in der Gasse ließ ich aus, und was nach unserer Rückkehr noch alles passiert war, ließ ich ganz entschieden aus. Jeremy hörte zu und sagte sehr wenig. Als ich zum Ende kam, bemerkte ich eine Bewegung im Garten. Clay kam mit langen Schritten aus dem Wald, die Schultern gestrafft, die Lippen zu einem harten Strich zusammengepresst.
»Geh rein«, sagte Jeremy. »Schlaf ein bisschen. Ich kümmere mich um ihn.«
Ich flüchtete ins Haus.
Oben in meinem Zimmer holte ich das Handy aus der Reisetasche und wählte eine Nummer in Toronto. Es war nicht Philip, den ich anrief, aber das lag nicht daran, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich rief ihn deshalb nicht an, weil ich wusste, ich sollte eigentlich ein schlechtes Gewissen haben, und weil ich das nicht fertig brachte, schien es mir nicht richtig, ihn anzurufen. Ergibt das irgendeine Art von Sinn? Wahrscheinlich nicht.
Wenn ich mit irgendjemandem außer Clay geschlafen hätte, hätte ich ein schlechtes Gewissen gehabt. Andererseits, die Wahrscheinlichkeit, dass ich Philip mit irgendeinem Mann außer Clay betrügen würde, war so verschwindend gering, dass man die Möglichkeit ignorieren konnte. Ich war von Natur aus loyal, ob ich es nun wollte oder nicht. Aber was mich mit Clay verband, war so alt, so kompliziert, dass es mit normalem Sex nicht zu vergleichen war, wenn ich mit ihm schlief. Es bedeutete, einem Bedürfnis nachzugeben, das so tief ging, dass alle Wut und alle Verletzungen und aller Hass der Welt mich nicht davon abhalten konnten, zu ihm zurückzukehren. Ein Werwolf zu sein, in Stonehaven zu sein und mit Clay zusammen zu sein – es war so eng verflochten, dass ich die Stränge nicht voneinander trennen konnte. Sich auf eins davon einzulassen hieß, sich auf alles einzulassen. Mich Clay zu schenken bedeutete nicht, dass ich Philip betrog, es bedeutete, dass ich mich selbst betrog. Es ängstigte mich zu Tode. Noch als ich dort auf dem Bett saß mit dem Handy in der Hand, spürte ich, wie ich abrutschte. Die Barriere zwischen den beiden Welten wurde fester, und ich saß auf der falschen Seite in der Falle.
Ich saß da und starrte das Gerät an, versuchte zu entscheiden, wen ich anrufen sollte, welche Person in meinem menschlichen Leben die Kraft haben würde, mich wieder auf die andere Seite zu ziehen. Eine Sekunde lang dachte ich daran, Anne oder Diane anzurufen. Ich verwarf den Gedanken sofort wieder, und dann fragte ich mich, warum ich ihn überhaupt erwogen hatte. Wenn es mir nicht helfen würde, mit Philip zu reden, warum sollte ich dann auch nur erwägen, seine Mutter oder seine Schwester anzurufen? Ich verfolgte den Gedanken noch etwas weiter, aber etwas an ihm machte mir Angst. Nach einer kurzen Pause drückten meine Finger wie von selbst eine Reihe von Tasten. Als das Telefon klingelte, fragte ich mich willenlos, wen ich jetzt eigentlich angerufen hatte. Dann schaltete sich klickend ein Anrufbeantworter ein. »Hi, Sie haben die Nummer von Elena Michaels bei Focus Toronto gewählt. Ich bin zurzeit nicht im Büro, aber wenn Sie mir nach dem Piepton Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen, werde ich Sie bei der nächsten
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