Die Nacht des Satyrs
werden. Aber noch bevor Raine etwas sagte, wusste sie, was geschehen war. Sie war in ihren feuchttrüben Träumen niedergekommen.
Es waren Jungen gewesen. Zwillinge. Anderweltkinder, die bereits einen Tag nach der Empfängnis weit entwickelt gewesen waren.
Einer von ihnen hatte einen olivfarbenen Teint gehabt. Raines Kind.
Der andere hatte die Farbe von ebenholzschwarzem Marmor gehabt.
Beide waren tot geboren.
[home]
33
D ie Zwillinge wurden in der Satyr-Krypta beigesetzt, in einer stillen Zeremonie im engsten Familienkreis. Tagelang danach aß Jordan kaum und weigerte sich, zu sprechen. Raine ließ nichts unversucht, sie zu trösten, doch als sie ihn immer wieder abwies, suchte er Zuflucht in seiner Arbeit.
Am Nachmittag des fünften Tages kam sie zu ihm. Er hielt sich im Garten hinter dem Haupthaus auf. Jordan hielt einen Korb in einem Arm. Ihr Abschiedsgeschenk.
Als Raine sie sah, sprang er sogleich auf. Sie wollte weinen, als sie den Schmerz in seinem Gesicht sah. Schmerz, den sie ihm beschert hatte.
»Ich gehe fort«, verkündete sie unverblümt.
Er legte beide Hände an ihre Schultern und sah sie flehentlich an. »Es war nicht deine Schuld! Das Ritual aufzuschieben hat die Fehlgeburt nicht ausgelöst. Denkst du, es war dein Fehler?«
Ja, genau das dachte sie. »Was ich denke, ist unerheblich«, antwortete sie, schüttelte müde den Kopf und wich einen Schritt zurück. »Ich gehe fort. Ich kehre zu meinem Leben in Venedig zurück.«
Sie hatte Salerno in ihrem Traum gesehen, in der Nacht, als sie die Fehlgeburt hatte. Und das bedeutete etwas. Er suchte immer noch nach ihr. Sollte er herkommen, würde er einen Skandal verursachen und schreckliche Scham über sie bringen. Sie durfte nicht zulassen, dass Raine und seine Familie unter ihrer erbärmlichen Vergangenheit litten. Ein solches Schicksal verdienten sie nicht.
Gewitterwolken brauten sich in Raines Augen zusammen. Auch wenn er sich sonst nichts anmerken ließ, hatte Jordan gelernt, die wenigen Anzeichen zu deuten.
»Was für ein Leben?«, fragte er. »Auf der Straße?«
»Raine …«
»Weißt du, in welche Gefahr du dich begibst, wenn du fortgehst? Bist du dir gewahr, dass Morpheus dir weiter nachstellen wird? Und selbst wenn er aufgibt, werden andere Anderweltkreaturen dich verfolgen.«
»Durchaus, und ich bin gewillt, dieses Risiko einzugehen.«
»Bist du hier so unglücklich? An der Seite des Mannes, den du angeblich liebst?«
Sie biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Sie musste weg, bevor sie zusammenbrach. »Ich möchte dir etwas geben, bevor ich gehe«, wich sie seiner Frage aus und reichte ihm den Korb.
Verwirrt sah er auf das, was sie ihm gab.
Natürlich war er verwirrt. Der Korb war voller Stöckchen, die mit Schleifen zu Paaren zusammengebunden waren – mit dem Band, das sie ihm in Venedig weggenommen hatte. Seit Wochen beseelte sie der seltsame Trieb, jeden Morgen diese merkwürdigen Gebilde zu winden. Sie hatte unterschiedliche Zweige und Hölzer ausprobiert und sie auf verschiedenste Weise gebunden: die Bänder geflochten, zu Schleifen gebunden oder mit diversen Knoten versehen. Nichts konnte sie je zufriedenstellen, schien richtig. Und trotzdem war es jeden Morgen, wenn sie die beiden Hölzer zusammenfügte, in ihr ruhiger geworden, und sie hatte den Tag bewältigen können. Voller Scham hatte sie die Hölzchen immer verborgen … bis heute.
Als er den Korb nicht nahm, stubste sie ihn ihm entgegen. »Ich weiß nicht, was es bedeutet. Es ist eine Art Botschaft an dich.«
Raine war zu wütend, als dass er zuhören konnte. Er schlug ihr den Korb aus der Hand, so dass sein Inhalt sich auf dem laubbedeckten Weg verteilte. »Wenn du mich wirklich verlassen willst, dann geh! Und nimm deinen Hexenkram mit! Aber reise nur so weit, wie es dieses Anwesen erlaubt! Finde ein Heim bei deiner Schwester, oder ich baue dir eines. Du darfst das Satyr-Land nicht verlassen, denn du bist zu wichtig. Hier gilt es mehr zu berücksichtigen als deine Präferenzen!«
Er wandte sich ab und trat ihr Geschenk absichtlich mit der Stiefelferse in die Erde. Zweige knackten und wurden tief in den Boden getrieben, als er sie stehen ließ.
Jordan sah auf ihre verteilten Gaben. Sie wusste, dass sie ihn verletzt hatte. »Es tut mir leid«, sagte sie zu niemandem, denn er war längst fort. Ungeachtet seiner Worte musste sie tun, was sie zu tun vorhatte. Sie konnte nicht zulassen, dass der Skandal, den ihr Leben darstellte, seines
Weitere Kostenlose Bücher