Die Nacht des Satyrs
Weinen stand auf einem leinenverhüllten Tisch bereit, wo sie an jeden ausgeschenkt wurden, der sie kosten wollte. Raine überlegte schon, eine Probe zu nehmen, als jemand in ihn hineinrannte – buchstäblich.
»Oh, perdone! Perdone!« Der Bischof fegte mit seinen Händen über Raines Schenkel und Schritt, als wollte er etwaigen Schmutz oder Staub entfernen. Er hatte alles genauestens geplant und dafür gesorgt, dass er auf eine Weise gegen seinen Auserwählten fiel, die es ihm gestattete, dessen Genitalien zu berühren und es gänzlich unbeabsichtigt aussehen zu lassen.
»Nehmt Eure Hände von mir, Mann!«, ermahnte Raine ihn und stieß den Bischof weg.
Dieser wich artig zurück, denn fürs Erste war er zufrieden, den Begehrten, wie er ihn im Stillen nannte, wenigstens schon einmal gefühlt zu haben. Einen Monat lang würde er sich nicht mehr waschen!
»Lord Satyr! Willkommen am Stand der Kirche von Santa Maria del Gorla! Welch ein erstaunlicher Zufall, Euch abermals zufällig zu begegnen!«, frohlockte er und klatschte überglücklich in die Hände.
Raine sah ihn verständnislos an, aber der Bischof weigerte sich, darob enttäuscht zu sein.
»Wir trafen uns unlängst bei dem Vortrag über die Phylloxera in Venedig«, erinnerte er ihn. »Das war faszinierend, nicht wahr? Wir sollten uns einmal abends zusammensetzen und unsere Bemühungen gegen diese entsetzliche Pest besprechen.«
Raine trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Da er fürchtete, sein Begehrter könnte gleich gehen, sprach der Bischof eilig weiter: »Vorhin nahm ich eine Kostprobe am Satyr-Stand. Welch eine Vollkommenheit! Die Aromen explodieren auf der Zunge in einer Mischung aus vollmundigen, leidenschaftlichen Früchten und feinsten Beinoten. Und was für eine Konsistenz! Königlich!« Er küsste sich die Fingerspitzen.
Raine trat abermals von einem Fuß auf den anderen.
Nun redete der Bischof noch schneller. »Im Gegenzug möchte ich darauf bestehen, dass Ihr von meinem Wein kostet.« Er entkorkte einen seiner besten Weine und reichte Raine die ganze Flasche.
»Ich bedaure, aber ich scheine mein Glas bei der letzten Probe stehengelassen zu haben.«
Der Bischof winkte ab. »Ihr braucht kein Glas. Kostet aus der Flasche, und sagt mir dann, was Ihr von dem Wein haltet.«
Während Raine das Angebot annahm und die Flasche an seine Lippen hob, spreizte der Bischof gespannt die Finger unter seinem Doppelkinn. Unzählige Male hatte er diesen Moment im letzten Jahr in Gedanken durchgespielt. Er hatte sich die Lobpreisungen des Begehrten ausgemalt, mit denen er ihn in Kürze überhäufen würde. Er hatte sich vorgestellt, wie Raine nach der Kostprobe die überragende Fachkenntnis des Bischofs erkannte, einen Arm um ihn legte und ihn aufforderte, mit ihm zusammen über den Markt zu schreiten und gemeinsam die Weine der anderen zu begutachten.
Einige Tropfen rannen aus dem Flaschenhals in Raines offenen Mund. Aber plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit, und er hielt abrupt inne. Wie erstarrt blickte er über den Bischof hinweg in die Ferne. Dann spuckte er den Wein ins Gras und gab dem Bischof wortlos die Flasche zurück.
Dieser presste sie an seine Brust und stellte sich in Erwartung hymnischen Lobes auf die Zehenspitzen.
»Ich habe beschlossen, zu heiraten«, erklärte Raine ohne jede Vorwarnung.
Für den Bischof kam diese Ankündigung so überraschend und unwillkommen wie ein Herzanfall. Die Weinflasche glitt ihm aus den Fingern und fiel auf den Teppich. Woher kam dieser entsetzliche Einfall? Er folgte Raines Blick und sah, dass er auf zwei Frauen gerichtet war, die gemeinsam den Weg zum Satyr-Tor hinaufgingen. Eine von ihnen war die Gemahlin des ältesten Satyr. Die andere kannte der Bischof nicht. Aber wer sie auch sein mochte – ihm gefiel der gierige Gesichtsausdruck nicht, mit dem sein Begehrter ihr nachblickte.
Zu den Füßen des Bischofs versickerte der Flascheninhalt im Teppich, während seine Hoffnungen auf Raine unaufhaltsam erloschen. Er kniete sich hin, um den Wein mit seinem Taschentuch aufzunehmen. Gewöhnlich überließ er solche Arbeiten den Dienern, doch in seinem Elend begriff er kaum, was er tat.
Raine bückte sich und stellte die Flasche aufrecht, um die Flut einzudämmen.
»Nun?«, fragte er. »Kümmert Ihr Euch um das Aufgebot?«
Der Bischof kam wieder halbwegs zur Besinnung, hob die Flasche hoch, stand auf und schürzte die Lippen. »Ihr seid geschieden. Die Kirche erkennt keine zweite Heirat
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