Die Nacht des Satyrs
aber ich sah sein Porträt. Ich würde sagen, dass ich meiner Mutter ähnlicher bin.«
»Weil der Mann, den du für deinen Vater gehalten hast, nicht dein leiblicher Vater war«, erklärte Raine ihr unverblümt. »Deine Mutter gab dir dein menschliches Blut, doch du trägst auch Feenblut in dir, das von deinem richtigen Vater stammt, dem König einer Welt, die an unsere grenzt.«
»Ist das wahr?«, hauchte Jorden.
Raine, Nick und Jane nickten geschlossen.
Dann tätschelte Jane ihr tröstend die Hand. »Mit der Zeit begreifst du es besser. Und wenn du genauer nachdenkst, wirst du feststellen, dass viele Ereignisse in deinem bisherigen Leben erst aus dieser Warte einen Sinn ergeben.«
Also war der Traum ihrer Mutter von der Nacht vor neunzehn Jahren, als sie Jordan empfangen hatte, überhaupt kein Traum gewesen. Alles war Wirklichkeit gewesen, dachte Jordan, der schwindlig wurde.
Nick sah liebevoll zu seiner Frau. »Jane ist deine Schwester, vom selben Vater gezeugt, aber von einer anderen Mutter geboren.«
Schwester? Diese Neuigkeit war ein solcher Schock, dass Jordan nicht wusste, was sie sagen sollte. Zu erfahren, dass sie nicht allein auf der Welt war und dass diese freundliche Frau eine Verwandte war, schien Jordan noch abwegiger als alles, was sie bislang gehört hatte. Sie sah Jane mit gänzlich neuem Interesse an.
Diese lächelte. »Ich bin froh, dass es endlich heraus ist. Unser Anderweltvater war derjenige, der einen Brief schrieb, in dem er Nick und Raine anwies, nach uns zu suchen. Seiner Nachricht zufolge befanden wir und eine dritte Schwester, die noch gefunden werden muss, uns in irgendeiner Gefahr.«
Jordan blickte von einem zum anderen, bevor sie letztlich wieder Raine ansah. »Dann war unsere Begegnung kein Zufall? Du hast mich hergebracht, weil es dir in einem Brief aus einer angrenzenden Welt befohlen wurde?«, fragte sie kühl.
»Ich brachte dich her, um dir meinen Schutz anzubieten«, entgegnete er und stemmte seine Hände in die Hüften.
»Und besagter Schutz erfordert eine Vermählung«, fügte Nick hinzu.
Seine Bemerkung wurde mit einem verärgerten Blick von Raine quittiert.
Jane legte eine Hand an Nicks stoppeliges Kinn. »Die beiden haben noch einiges Private zu bereden, meinst du nicht auch, mein Liebling? Und ich bin erschöpft. Bringst du mich bitte heim?«
Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn von der Lichtung. Nun waren nur noch Jordan und Raine hier, umgeben von stummen Steinfiguren.
Raine warf den Fehdehandschuh. »Ich habe das Aufgebot bei einem Priester bestellt.«
»Was?! Warum?«
»Natürlich, damit ich dich zur Frau nehmen kann.«
Der Gedanke, einen Ehemann zu bekommen, war merkwürdig und hatte etwas Verbotenes. Nicht einmal für einen Moment erlaubte Jordan sich, allein die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ehe sie den Kopf schüttelte.
»Verzeih, aber meine Antwort lautet nein.«
Sein Tonfall war ruhig und eindeutig streitlustig. »Es ist keine Stunde her, da hast du gesagt, dass du mich liebst.«
Sie nickte.
»Dann heirate mich!«
»Nein«, wiederholte sie, »denn du liebst mich nicht.«
Sein Schweigen war eine schmerzliche Bestätigung.
»Und aus anderen Gründen«, ergänzte sie rasch, als er anhob, ihr etwas zu entgegnen, »habe ich nicht vor, zu heiraten – niemals.«
»Warum zum Teufel nicht?« Raine war überrascht, wie viel es ihm bedeutete. Er hatte gedacht, dass es einzig König Feydons Befehl war, der es von ihm verlangte; dennoch traf ihre Abweisung ihn stärker als erwartet.
»Durch eine Heirat wäre ich vollkommen abhängig von dir. Dem Gesetz nach wäre ich nichts weiter als ein Anhängsel.«
»Und du stündest unter meinem Schutz.«
»Der durchaus erdrückend sein könnte.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich will keinen Ehemann – weder dich noch einen anderen.«
»Jordan …«, begann er, um ihr offenbar weiter zu widersprechen, aber sie blieb beharrlich.
»Möchtest du wirklich eine Frau heiraten, die nicht ganz weiblich ist?«, fragte sie, und sie merkte, wie sie lauter wurde. »Eine, die du in den Straßen von Venedig gefunden hast, nackt bis auf eine Maske und einen Umhang?«
»Wie kam es eigentlich dazu?«, fragte er ein bisschen mürrisch. »Das hast du mir nie verraten.«
Sie ging einige Schritte von ihm weg und fegte ein goldenes Blatt von dem Altar in ihrer Nähe. »In jener Nacht waren mir meine Kleider gestohlen worden.« Was der Wahrheit entsprach, denn Salerno hatte sie ihr weggenommen. »Du hast
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