Die Nacht des Satyrs
einem dünnen Schleier verhüllt, hockte die Kreatur lächelnd da und lockte den Betrachter in ihr sinnliches Spiel.
Jordan ging noch näher und strich über den Fuß aus schimmerndem Granit, der in einer zarten Sandale steckte.
»Was ist das hier?«, flüsterte sie ehrfürchtig.
»Ein Brunftplatz«, antwortete Raine kalt. »Ein Ort, an dem seit Jahrhunderten die heidnischen Rituale meiner Vorfahren zelebriert werden. Der Ort, an dem meine Brüder und ich uns einmal im Monat bei Vollmond versammeln, wo unsere Körper sich verändern, bis wir ebenso sehr Tier wie Mensch sind, und wo ich getrieben bin, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang sinnloser Wollust zu frönen.«
Wie letzte Nacht. Bei ihr.
Sie sah ihn an. »Gewiss ist es dir verhasst, die Kontrolle über dich zu verlieren.«
Er wies mit einem gequälten Ausdruck auf die Statuen. »Schau sie dir an! Der trunkene Silenus, Pan mit seiner Flöte, die halbnackten Mänaden. Rauschhafte Gelage, abnormes Gebaren. Hier komme ich her. Das hier ist es, was ich bin!«
Nun begriff sie, was er vorhatte: Er wollte sie schockieren.
»Falls du dich von mir und von deinen eigenen Ursprüngen abwenden willst, dann tu es jetzt! Gaukle mir nicht länger vor, du würdest mich lieben!«
»Meinen eigenen Ursprüngen?«
»Wir – du und ich – entstammen einer Sphäre, die sich Anderwelt nennt.« Er schleuderte ihr die Worte entgegen, als wollte er sie auf die Probe stellen und hoffte gar, sie zu verletzen. »Dort ist die Magie hochkonzentriert und allgegenwärtig, und in der Anderwelt leben alle möglichen phantastischen Kreaturen.«
Seine Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sprach. »Gibt es dort noch mehr, die so … wie ich sind?«
Er nickte.
»Und werden sie in der Anderwelt akzeptiert?«
»Sie werden verehrt und leben in den Harems der reichsten und mächtigsten Menschen und sonstigen Wesen.«
»Aber sie sind nicht frei.«
»Nein, frei sind sie nicht.« Er wandte sich ab.
Er hatte ihr seine Geheimnisse anvertraut; sie machten ihn zu dem, was er war – und sie zu dem, was sie war. Also sollte auch sie ihm vertrauen.
»Ich war schon einmal hier«, überlegte sie.
Erschrocken drehte er sich zu ihr um. »Was hast du gesagt?«
Zunächst schwieg sie, denn es war ihr unangenehm, ihm mehr zu erzählen.
Er schwenkte eine Hand durch den Kreis. »Meine Brüder und ich haben diesen Bereich mit einem starken Schutz versehen. Niemand kann ihn ohne unsere ausdrückliche Erlaubnis betreten.«
»Trotzem sage ich dir, dass ich schon hier war. Ich kann es dir beweisen.« Sie schloss die Augen und begann, ohne hinzusehen die Namen der Statuen in der exakten Reihenfolge aufzuzählen, selbst jener, die zu weit entfernt standen, als dass Jordan sie erkannt haben könnte. »Da ist Bacchus, der Weingott. Zu seinen Füßen sind vier Nymphen, neben ihnen vier bärtige Hurenböcke, deren Phallusse in weiblichen Wesen stecken. Und dann sind da zwei Mänaden, die einen der Satyre umgarnen. Und Priapus ist da …«
Raine ergriff ihre Ellbogen, und als sie die Augen öffnete, sah er sie verwundert an. »Wie konntest du sie sehen?«
»In meinen Träumen, vor Jahren, als ich dreizehn wurde. Damals hielt ich sie für Eisskulpturen. Aber jetzt sehe ich, dass sie aus Stein sind. Sonst ist alles genauso wie in meinem Traum.« Sie zeigte zu dem entfernten Rand der Klamm. »Außer dass Nick und Jane dort hinten, am anderen Ende standen, von denen ich damals natürlich noch nicht wusste, wer sie sind.«
Sie hielt inne, bevor sie überrascht murmelte: »Sieh nur, sie sind jetzt auch hier!«
Tatsächlich erschienen Nick und Jane Hand in Hand am Rande der Lichtung. Als sie Raine und Jordan bemerkten, kamen sie zu ihnen. Jordan entging nicht, wie zerzaust die beiden aussahen.
Janes Frisur war halb aufgelöst und ihr Kleid voller Grasflecken. Hatten sie die Nacht zusammen hier auf der Lichtung verbracht, so wie Raine es beschrieb?
Jane wirkte ein wenig beschämt und flüsterte Nick zu: »Ich gehe zum Haus und mache mich frisch.«
Aber Nick hatte die Anspannung der beiden anderen gespürt und hielt ihre Hand fest. »Nein, bleib noch einen Moment!« Dann legte er seinen Arm um sie und zog sie an sich, um sie zu stützen, denn sie war sichtlich erschöpft.
Jane nickte, schmiegte sich an ihn und hob eine Hand an ihren Mund, als sie gähnen musste.
Unweigerlich entfuhr auch Jordan ein Gähnen.
Die Frauen grinsten einander an, denn sie wussten sehr wohl, wovon sie so müde
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