Die Nacht des Schierlings
der Wand. Es gab einen Korb mit Holzscheiten und Torfstücken, daran lehnte ein Paar Stiefel, das von schlammigen Wegen zeugte, an der Wand hing in einem einfachen Holzrahmen ein recht hübsches Aquarell von einem kleinen Haus inmitten eines üppig blühenden Gartens. Auf dem Tisch stand neben einer Kerze in einem Zinnleuchter eine schlichte, handtellergroße Schale aus Steingut, wie man sie überall bekam, daneben lag ein Löffel aus Horn.
All das überflog der Apotheker mit einem Blick, wie ein aufmerksamer Mensch stets auch Bedeutungsloses wahrnimmt, einfach, weil er Gründlichkeit gewöhnt ist und sein Beruf eine akkurate Beobachtung erfordert.
«Momme?», rief er noch einmal. «Momme Drifting?»
Er hörte hinter sich ein Schnaufen, Friedrich Reuther war die steile Treppe heraufgeklettert. «Eine verdammte Teufelsleiter», knurrte er, «wie soll man die wieder retour kommen? Mit dem Kopf zuerst? Rutschig ist sie bei dem Wetter auch noch. Momme sollte Sand streuen, sonst bricht er sich noch selbst den Hals.»
Leubold hörte nicht auf die Nörgelei. Es widerstrebte ihm, eine fremde Schlafkammer zu betreten. Was, wenn der Junge nicht allein war? Zudem roch es befremdlich. Zuerst nach Kohlsuppe, was nicht von Mommes kalter Feuerstelle kam, sondern durch die Ritzen der Wände und der Tür von den Nachbarn herüberdunstete, nach klammem Stroh, kalter Asche und nach noch etwas. Sein Geruchssinn war heute erheblich empfindlicher als sonst, was nicht angenehm war.
Sein Oheim schob die verrutschten Augengläser wieder die Nase hinauf und schnüffelte wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. «Immer diese Kohlsuppen», murmelte er und schnüffelte noch einmal. «Aber das scheint nur so, da ist noch was anderes, du musst es doch auch riechen? Kein Wunder, wenn der Kerl schläft wie ein Bär im Winter. Hier riecht es nach Opiumtinktur, findest du nicht? Die von grünen Kapseln? Doch, es riecht ein bisschen nach Laudanum, oder?»
Leubold sah ihn beeindruckt an. Offenbar war seine Nase heute doch nicht so überempfindlich, wie er angenommen hatte. Was der alte Mann hingegen alles erschnupperte. Wie hielt er es nur im Laboratorium aus, wo alle Tage seltsame, auch höchst unangenehme Gerüche aufstiegen? Diese Arbeit hatte ihn jedenfalls nicht abgestumpft.
«Nun starre mich nicht an, Junge, setz dich in Bewegung, sonst stehen wir hier bis Mittag. Ich weiß, du bist eine Schnecke heute, aber weck ihn endlich auf. Wir haben ja des Rätsels Lösung nun.»
Sprach’s und kam mit ungeduldigem Brummen seinem Neffen zuvor. Er stieß die einen Spalt offenstehende Tür zu Mommes Schlafkammer auf, zog die einfache Gardine beiseite und öffnete das Fenster – denn hier roch es nicht nur seltsam, sondern schlicht überhaupt nicht gut. Sofort fegte eine Wolke sprühfeiner Regen herein, was er nicht bemerkte. Der Geruch, den er als Laudanum erkannt zu haben glaubte, war mit dem von Erbrochenem vermischt.
«Momme?» Leubold war seinem Oheim nur zögerlich gefolgt, nun stürzte er an das Bett. «Momme», rief er nochmal und rüttelte ihn an der Schulter, «wach auf. Wach doch auf.»
Leubolds Geselle lag völlig bekleidet vor seinem Bett, halb auf der Seite, ein Bein und ein Arm ausgestreckt, als habe er versucht, noch einmal aufzustehen und die Tür zu erreichen. Auf seinem Hemd, noch mehr auf seinem Kissen und Laken, klebte Erbrochenes von undefinierbarer, grünlicher und bräunlicher Farbe. Seine Augen waren geschlossen, die Lider sogar zusammengepresst, sein Gesicht, seine Lippen leichenblass. Aber nicht, als schlafe er friedlich hinüber in eine andere Welt. Sein Mund war halb geöffnet und verzerrt, als habe jemand seinen Unterkiefer zur Seite geschoben.
«Momme», flüsterte Leubold krächzend, «mach doch keinen Blödsinn. Wach auf. Los.» Er beugte sich hinunter, sofort begann sich in seinem Kopf wieder alles zu drehen, aufstöhnend griff er nach der ausgestreckt liegenden Hand – und fuhr zurück, als habe er sich verbrannt. Momme Driftings Hand war eiskalt, wie sein ganzer Körper.
Der alte Friedrich schob seinen im Schrecken taumelnden Neffen beiseite, drückte ihn auf einen Hocker und beugte sich über den auf dem Boden liegenden Mann, hielt ihm seine Brille vor Mund und Nase, suchte an seinem Hals nach dem Pulsschlag und richtet sich ächzend wieder auf.
«Dachte ich’s doch gleich, der dumme Kerl hat das Zeitliche gesegnet. Mausetot, würde ich sagen, ich war ja nie sentimental. Sieht so aus», er legte den Finger an
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