Die Nacht des Schierlings
Hilfsbedürftigen beizustehen, er hat ihn im Gegenteil ins nächste Fleet gestoßen. Das klingt nicht nach einer guten Empfehlung für einen Sitz im Rat.»
«Du wolltest den Rock wegen der bevorstehenden, nein, der nur möglichen Wahl zum Senator verschwinden lassen? Ich denke, ‹der gute alte Lohbrügg lebt noch›. So hast du neulich extra betont. Wenn er tot ist, werde man weitersehen. Beginnen schon jetzt die Mauschelei und das wohlgefällige Verhalten? Verzeih, Claes, das war nicht fair. Es macht mir immer mehr Angst, dieses hohe Amt.»
Leider machte er hier den nächsten Fehler, er ignorierte ihr Geständnis, sie habe Angst vor etwas, das er sich wünschte, das ihm schmeichelte. Anstatt zu fragen: Warum, Liebste? Wovor hast du Angst, und was kann ich dagegen tun?, sagte er: «So wie du es ausdrückst, klingt es wirklich schäbig und nach Betrug. Vielleicht muss man es tatsächlich so nennen. Ich kann es nicht mehr ändern. Aber auch ohne den Sitz im Rat in Betracht zu ziehen: Es war ein Fehler. Ein Fehler war allerdings auch, dem Schneider das Loch im Rock vorzuführen, wie auf dem Präsentierteller. Nun gut. Solche Dinge geschehen eben, wir haben beide unseren Anteil daran. Das Gerede da draußen», seine Hand fuhr in wegwerfender Bewegung durch die Luft, «wird vorbeigehen. Die Verdächtigungen sind absurd, alle.»
Er war laut geworden, das hatte gutgetan und war zugleich unangenehm, aber Anne würde schon verstehen, dass damit nicht sie gemeint war. Für diesen Morgen war genug erklärt worden. Er holte tief Luft und spürte, wie der Atem wieder ungehindert seine Brust durchströmte, und fühlte sich plötzlich leicht. Zu leicht. Es war – animierend? Er nahm ihre Hand, führte sie an die Lippen, umfing sie mit seinen beiden Händen.
«Lass uns nicht weiter um etwas streiten, das wir nicht ändern können, Liebe», sagte er und bemühte sich um einen Ton, als sei nichts gewesen als ein ganz gewöhnliches, ein wenig in die Länge gezogenes Frühstück. Das beste Mittel gegen Verstimmungen und Verwirrungen der Seele war schon immer, sie nicht endlos zu drehen und zu wenden, sondern sie ab einem bestimmten Zeitpunkt zu ignorieren. Der war längst überschritten. «Dir ist kalt? Lass dir von Betty dein Wolltuch bringen, vergiss nicht, wir haben Oktober. Und nun muss ich endlich ins Kontor.» Noch ein Kuss, diesmal auf die Wange, und er stieg die Treppe hinab in die Diele.
Immer noch blickte er durch das Fenster in das vordere Kontor, das er durchqueren musste, um zu seinem und Christians Tisch am hinteren großen Fenster zu gelangen. Er hatte das Gefühl, nicht seinen seit Jahrzehnten vertrauten Platz zu sehen, seine alltägliche Welt, sondern ein Gemälde. Er fand das interessant. Der jüngste der Handelslehrlinge hob den Kopf von seiner Schreibarbeit und sah ihn, sofort nahm er Haltung an wie ein Kadett, dazu errötend – der arme Junge errötete schon vor einer vorbeisurrenden Fliege. Claes Herrmanns sah das, und plötzlich amüsierte es ihn, wie eine Szene in einem dieser Papiertheater, mit denen seine Kinder vor langer Zeit gespielt hatten.
Er nickte dem Jungen zu, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich wieder zu setzen, und dann tat er, was er nie zuvor getan hatte. Er spazierte zum Portal seines Hauses hinaus und überließ sich dem Tag, dem Müßiggang und dem Zufall.
Am Fenster des kleinen Salons im ersten Stock stand Anne Herrmanns und sah ihren Mann davongehen. Er sah heiter aus, seine Schritte beschwingt. Nie hatte sie sich seit ihrer Heirat so einsam gefühlt.
E s hatte aufgehört zu regnen, und im Opernhof versammelte sich im Handumdrehen eine Menschenmenge, als sei die nächste Ziehung des Zahlenlottos angekündigt. Die fand zwar stets vorn auf dem Gänsemarkt statt, aber auch dann standen die Menschen Kopf an Kopf, und Soldaten von der Gänsemarktwache sorgten für Ordnung. So viele wie beim Lotto mussten bei dieser Gelegenheit allerdings nicht im Zaum gehalten werden, schließlich gab es weder glückliche Gewinner oder verzweifelte Verlierer zu begaffen. Die ersten hatten sich bald vor der Hintertür der Apotheke versammelt, nachdem der mittlere Sohn des Kalkhofknechts von Friedrich Reuther ein Stück Kandiszucker geschenkt bekommen hatte, damit er sofort zum Rathaus renne und den Weddemeister hole. Sofort! und ohne Trödelei, ein zweites Stück gebe es, wenn er zurückkomme, bevor die Glocken die ganze Stunde schlagen. Weil es bis dahin noch einige Zeit war, hatte der brave
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