Die Nacht des Schierlings
sein Kinn und betrachtete den Toten noch einmal wie ein interessantes Insekt, «ja, sieht aus, als wär’s ein bisschen viel Laudanum gewesen, oder? Erstaunlich bei einem, der alle Tage mit Drogen hantiert. Hatte er Kummer, Gerrit, war er schwer krank? Aber so was machen nur Weiber. Er schien mir auch überhaupt nicht melancholisch, ganz im Gegenteil, er war allerbester Laune … Gerrit? Was hast du denn?»
Gerrit Leubold antwortete mit unappetitlichem Würgen. Er hätte die gesäuerte Milch nicht trinken sollen – er schaffte es gerade noch bis zum Fenster, bevor sein Magen im hohen Bogen alles wieder ausstieß, was ihm zugemutet worden war.
N ach dem Frühstück ging Claes Herrmanns wie an jedem Werktag die Treppe hinunter und durch die Diele zur Kontortür. Doch dann blieb er stehen, schon die Hand auf der Klinke, und blickte wie zum ersten Mal durch das eingelassene Glas. Er sah über die Tische gebeugte Köpfe, glaubte das Kratzen der Federn zu hören, vielleicht ein leise gewechseltes Wort zwischen Schreiber und Handelslehrling, scharrende Füße. Tatsächlich hörte er nur die Geräusche aus der Küche, deren Zugang auf der anderen Seite der Diele lag, dort, wo auch die breite Treppe zu den oberen Stockwerken hinaufführte. Die Tür stand offen, Töpfe klapperten, irgendetwas wurde unermüdlich gerührt und geschlagen, der Haken über der Feuerstelle quietschte, Holzpantinen auf Kacheln – vertraut und alltäglich, deshalb sonst stets überhört.
Die Tür zum Kontor war geschlossen, sie schloss gut und alle Störungen aus. Von dem, was im Haus vorging, sollte hinter ihr nichts mehr zu hören sein. Was Claes oft bedauert hatte, es waren so traute Töne. Manchmal, wenn jemand die Tür offen gelassen hatte, vielleicht, um nur rasch in der Diele Post entgegenzunehmen oder weil er den Wasserkrug zum Nachfüllen in die Küche brachte, wenn er dann hörte, was von dort und den oberen privaten Stockwerken herüberklang, lächelte er. Dann erinnerte er sich für eine heimliche Minute an das in der Dunkelheit in seinem Bett liegende Kind, die Kammertür einen Spaltbreit geöffnet, das mit den gedämpften Geräuschen aus dem abendlichen Leben der Erwachsenen ruhig einschlafen konnte. Nie wieder hatte er sich in so sicherer Geborgenheit gefühlt.
Er war auch jetzt sicher und in seiner Familie, besonders in seiner Ehe geborgen, aufgehoben in seiner Welt. Er wusste auch noch um die Ängste und Nöte der Kindheit, die Stunden völliger Verlorenheit, gleichwohl machte die Erinnerung dieser abendlichen halben Stunde vor dem Einschlafen alles andere wett. Sogar jene Abende, an denen böse Geister, Feuerdrachen oder mordlüsterne Piraten unter seinem Bett gelauert hatten.
Er war ein pflichtbewusstes Kind mit wenig freier Zeit gewesen und ein ebensolcher Mann geworden. Er hatte eine Position in der Stadt und darüber hinaus, er war seiner Arbeit immer gerne nachgegangen, hatte sich aber Vergnügungen und Genüssen nicht verschlossen. Er war erfolgreich und selbstbewusst, manchmal, das wusste er, auch selbstgefällig. Jedermann hatte ihn gern zu Gast, man schmückte sich mit seiner Gegenwart als der eines einflussreichen, welterfahrenen Mannes und anregenden Plauderers, folgte ebenso gerne den Einladungen in sein Haus am Neuen Wandrahm oder in den Garten an der Alster.
Es hatte hier und da Gerede gegeben, so beim nie ganz geklärten Tod seiner ersten Frau, auch bei einigen verblüffend erfolgreichen Geschäften, bei der Wahl seiner zweiten Ehefrau, bei der Ehescheidung seiner Tochter. Weniges davon war wirklich von Bedeutung gewesen, es war vorübergegangen und hatte ihm höchstens einen Hauch von Unberechenbarkeit verliehen, ohne den jeder Mann als ein Langweiler erscheint. Selbst bei den so pflichtbewussten und die Berechenbarkeit suchenden Hanseaten.
Doch nun war diese Sicherheit rissig geworden, das Bild, das er von sich und seiner Welt hatte, verschwamm, war nicht mehr klar zu erkennen. Wenn er sich auch an jedem Morgen aufs Neue vornahm, dieses Schwammige, Verunsichernde zu ignorieren, weil es ohnedies nicht real war, weil es gar nicht so sein konnte, keinesfalls so plötzlich, wenn er sich auch befahl, sich zusammenzureißen und nicht hinter jedem ungeschickten Wort oder flüchtigen Blick Misstrauen, Anklage oder Verachtung zu argwöhnen – es gelang selten.
Er fühlte sich wie unter einer gläsernen Glocke und wusste selbst nicht recht, warum. Es war einfach nicht angemessen.
«Du bist nicht schuld an
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