Die Nacht des Schierlings
Lorenzen hingegen, die Lederwarenhändlerin, war mit nur wenig Phantasie begabt, dafür verstand sie sich bestens auf das Rechnen. Als ihr Mann an diesem Morgen die Nachricht vom Tod Bruno Hofmanns brachte, machte sie ein angemessen ernstes Gesicht, was nur zum geringeren Teil an der Tragik dieses Todes lag. Natürlich war es über die Maßen betrüblich, dass die Nachbarin Witwe geworden war, dazu schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre. Wirklich zutiefst betrüblich. Andererseits wäre es sträflich, die Gelegenheit ungenutzt zu lassen. Das Ereignis der Nacht würde einige Trauernde und zahlreiche Neugierige anlocken, also hieß es, möglichst viel Ware nahe der Tür und den vorderen Fenstern auszustellen. Insbesondere die Kleinigkeiten, diese verführerischen Nutzlosigkeiten, die es bei Lorenzen am Rödingsmarkt neben den großen gegerbten Häuten zu kaufen gab: buntgefärbte schmale Riemen und Lederbänder oder zierliche Täschchen für kleine Münzen. Zu schade, dass sich Lorenzen noch nicht hatte überzeugen lassen, bei den Handschuhmachern und Schustern Aufträge zu geben, um selbst Handschuhe, Stiefeletten, Gürtel und Taschen jeder Art oder Westen zu verkaufen. Stets fürchtete er Ärger mit den Ämtern der Handwerker, die sich vehement gegen jede Lockerung der rigiden Vorschriften, wer was herstellen und verkaufen durfte, stemmten.
Als der Vormittag halb herum war, konnte von gutgefüllter Kasse noch keine Rede sein, aber der Blick auf die kleinen Münzen stimmte sie dennoch zufrieden. Jeder nach seinen Möglichkeiten, die Zeit, in der die Damen und Herren mit den besser gefüllten Beuteln im nachbarlichen Trauerhaus vorsprechen würden, begann erst.
Eine nicht mehr ganz junge Frau – sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein – drückte nun wie etliche vor ihr vergeblich die Klinke der Konditoreitür herunter. Sie sah ganz danach aus, als könne sie sich sogar eines dieser Täschchen aus karmesinrotem Moskowiter Juchten leisten. Es passte genau zum Burgunderton ihres Schultertuches, das aus feinstem Wollstoff gearbeitet und mit zwei Finger breiten Samtstreifen eingefasst war. Kein Tuch für kniepige Kleinbürgerfrauen, für so etwas hatte Madam Lorenzen ein Auge. Andererseits trug sie ein schlicht gearbeitetes Gewand aus solidem, aber einfachem Kattun und bis auf einen Ring keinen Schmuck, mal abgesehen von den Kämmen in ihren wohl nur mühsam zu bändigenden blonden Locken. Das war kein besonders fein poliertes Horn, sondern teures Schildpatt. In der Summe gab all das Anlass zur Zuversicht für zumindest ein bescheidenes Geschäft, allerdings – Madam Lorenzen seufzte vernehmlich – vermisste sie im Gesicht dieser Madam den für eine eitle Ausgabe nötigen Übermut.
Trotzdem machte sie sich eilfertig an ihren vor der Tür aufgebauten Waren zu schaffen, rückte hier einen Gürtel zurecht, schnipste dort ein imaginäres Stäubchen weg, verscheuchte mit dem Fuß einen herumschnüffelnden Hund.
«Ihr werdet dort heute kein Glück haben, Madam», rief sie, als die Frau versuchte, durch das Fenster in die Konditorei zu sehen. «Nein, heute sicher nicht», wiederholte sie auf den fragenden Blick. «Habt Ihr noch nicht davon gehört? Es ist tragisch, wirklich eine Tragödie. Der Meister ist gestorben», sie senkte pietätvoll Blick und Stimme, «der brave Meister Hofmann, heute Nacht, ganz unerwartet.»
Bisher hatten sich ihr alle, die vergeblich an die Tür geklopft und ihrer Erklärung zugehört hatten, mit Neugier im Blick zugewandt. Diese Madam mit dem feinen Schultertuch runzelte nur die Stirn und starrte weiter auf die verschlossene Tür. Endlich drehte sie sich doch um. «Meister Hofmann ist tot? Er ist doch – nun, jedenfalls war er kein alter Mann. War er krank?»
Madam Lorenzen faltete die Hände vor der Brust und schüttelte den Kopf. «Wenn Ihr ein wenig näher kämt, Madam, Ihr versteht sicher: Direkt vor dem Trauerhaus schickt es sich nicht, laut zu reden. Ach, die arme Hofmännin. Sie ist am Boden zerstört, am Boden, ja. Dabei war sie noch gestern hier bei uns, um sich die neuesten Waren anzusehen, dieses Juchtenleder aus Russland ist wirklich exquisit, findet Ihr nicht auch, Madam? Doch nun – was soll man sagen? Leider ist ein so wundervolles Rot dieser Tage unpassend für Madam Hofmann. Ich meine für eine zutiefst trauernde Witwe. Hingegen für eine elegante, mitten im Leben stehende junge Frau wie Euch … Man weiß nie, wann das Schicksal zuschlägt, sagt mein Gatte immer,
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